Heute vor einem halben Jahr griff die Hamas Israel an und tötete 1200 Menschen, seit dem Tag bombardiert Israel ununterbrochen den Gazastreifen und tötete bis zum heutigen Tag mehr als 33.000 Palästinenser. 600 Bundesbeamte und Angestellte des öffentlichen Diensts haben nun einen Brief an die Bundesregierung geschrieben, damit diese ihre Politik ändert. (Übernommen von Die Freiheitsliebe vom 7. April 2024)
Wir dokumentieren ihren Brief:
Sehr geehrter Bundeskanzler Olaf Scholz,
sehr geehrter Wirtschaftsminister Robert Habeck,
sehr geehrte Außenministerin Annalena Baerbock,
sehr geehrter Justizminister Marco Buschmann,
sehr geehrter Finanzminister Christian Lindner,
sehr geehrte Entwicklungsministerin Svenja Schulze,
wir richten uns an Sie, weil wir als Bundesbeamtinnen und Angestellte im öffentlichen Dienst den Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes verpflichtet sind. Art. 25 Satz 1 GG erteilt einen generellen Rechtsanwendungsbefehl in Bezug auf das Völkerrecht. Diese Vorschrift bewirkt nach Aussage des BVerfG, dass „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ohne ein Transformationsgesetz, also unmittelbar, Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden und dem deutschen innerstaatlichen Recht im Range vorgehen.“ Israel begeht in Gaza Verbrechen, die im evidenten Widerspruch zum Völkerrecht und damit zum Grundgesetz stehen, dem wir als Bundesbeamtinnen und Angestellte im öffentlichen Dienst verpflichtet sind. Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt politisch, wirtschaftlich und militärisch die völkerrechtswidrige Politik Israels in Gaza und den weiteren völkerrechtswidrig besetzten palästinensischen Gebieten. Es ist daher unsere Pflicht als Beschäftigte des Bundes, diese Politik der Bundesregierung zu kritisieren und daran zu erinnern, dass die Bundesregierung strikt die Verfassung und das Völkerrecht zu beachten hat.
Fast sechs Monate ununterbrochener und exzessiver militärischer Gewalt seitens der israelischen Besatzungsarmee (IOF) gegen die palästinensische Zivilbevölkerung haben zu insgesamt über 100.000 verletzten, vermissten und getöteten Menschen; über 1,9 Mio. Vertriebenen und zur vollständigen Zerstörung des Gazastreifens geführt. Die auf den Angriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 folgende Militäroffensive, die die israelische Regierung als „Selbstverteidigung“ deklarierte, ist in dem Ausmaß der Zerstörung in dieser kurzen Zeit einzigartig und so massiv, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) mit Beschluss vom 26.01.20241 die Gewaltakte der IOF als „plausible Akte des Völkermords“ einstufte und vorläufige Maßnahmen gegen Israel zur Abwendung des sich bereits zu diesem Zeitpunkt abzeichnenden Völkermordes der israelischen Regierung an der palästinensischen Zivilbevölkerung anordnete. Der IGH entschied u.a., dass humanitäre Hilfe für die hungernde Bevölkerung in Gaza ermöglicht werden müsse, sowie, dass Anstachelung zum Völkermord unterbunden und bestraft werden muss. Das Argument, die Hamas würde Zivilistinnen als menschliche Schutzschilde einsetzen, rechtfertige nicht den Einsatz dieser exzessiven Gewalt. Dieser Auffassung schlossen sich 15 von 16 IGH-Richterinnen an, darunter auch der angesehene israelische Richter Aharon Barak.
Die israelische Regierung lässt seit Beginn ihrer Militäroffensive nahezu keine lebensnotwendigen Lebensmittellieferungen in den Gazastreifen, begeht damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verursacht gezielt den Hungertod von hunderttausenden im Gazastreifen festgehaltenen Palästinenserinnen. Israel benutzt den Hunger gezielt als Kriegswaffe! Bereits am 10. Oktober 2023 bezeichnete Human Rights Watch daher den Gaza-Streifen als eine humanitäre Katastrophe. 70 % der getöteten Palästinenserinnen sind Frauen und Kinder, was UNICEF daher am 19.01.2024 als einen „israelischen Krieg gegen Kinder“ bezeichnete. Es sind zu viele dokumentierte Kriegsverbrechen seitens der israelischen Soldatinnen als das wir sie alle aufzählen könnten: sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Frauen und Mädchen, Folter an Gefangenen, Phosphorbomben, die gezielte Zerstörung ziviler und humanitärer Einrichtungen sowie die gezielte Tötung von Mitarbeitenden von Hilfsorganisationen, Gesundheitspersonal und Journalistinnen etc. Allein in den ersten drei Monaten der Offensive im Gazastreifen hat Israel mehr als 45.000 Bomben eingesetzt. Dies entspricht vom Gewicht und der Zerstörung her mehr als drei nuklearen Bomben, die über Hiroshima von den USA abgeworfen wurden. Der Gazastreifen ist ein abgeriegeltes Territorium, aus dem niemand heraus oder hinein gelangt ohne die Erlaubnis der israelischen Regierung. Das israelische Ziel war daher von vornherein klar: Die absolute Zerstörung des Gazastreifens mit so vielen zivilen Opfern wie möglich. Die ranghöchsten israelischen Amtsträger haben ihre Ankündigungen der ersten Tage nach dem 7. Oktober 2023 innerhalb der letzten knapp sechs Monate in die Tat umgesetzt:
- „Wir werden Gaza in eine einsame Insel verwandeln.“ Benjamin Netanjahu,
Premierminister von Israel - „Der Schwerpunkt liegt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit.“ Daniel
Hagari, Konteradmiral der Verteidigungsstreitkräfte Israels - „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Yoav
Gallant, israelischer Verteidigungsminister - „Das Einzige, was in den Gazastreifen gelangen sollte, solange die Hamas die von
ihr festgehaltenen Geiseln nicht freilässt, ist nicht ein Gramm humanitäre Hilfe,
sondern Hunderte von Tonnen Sprengstoff der Luftwaffe.“ Itmas Ben-Gvir, Minister
für öffentliche Sicherheit in Israel - „Menschliche Tiere müssen als solche behandelt werden. Ihr wolltet die Hölle, ihr
werdet die Hölle bekommen.“
Ghassan Alian, Leiter der Militärkoordination Israel
Befeuert von diesen menschenverachtenden Aussagen begehen israelische Soldat*innen tagtäglich Kriegsverbrechen ungeheuerlichen Ausmaßes, die gefilmt und online von diesen geteilt werden, auch weil sie keinerlei Sanktionierung zu befürchten haben. James Elder, UNICEF-Sprecher, sagte am 22.03.2024: „Die Tiefe des Grauens übersteigt unsere Fähigkeit, es zu beschreiben (…) Es ist eine vollständige Vernichtung“.
Am 18.03.2024 meldete Reuters die Tötung von über 13.000 Kindern und über 31.000 getötete Menschen insgesamt. Tausende werden vermisst und befinden sich noch immer unter den Trümmern, aus denen
sie nicht geborgen werden können und lebendig begraben sind.
Am 9. November 2023 bezeichnete der Generalsekretär der Vereinten Nationen Antonio Guterres den Gazastreifen als den „größten Friedhof für Kinder“. Der hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borell, konstatierte am 18.03.2024, dass „der Gazastreifen vor dem 7. Oktober 2023 das größte Freiluftgefängnis der Welt war, seit dem 7. Oktober 2023 ist es der größte Freiluftfriedhof der Welt.“
Die Verbrechen des israelischen Militärs erstrecken sich auch ungestraft über den Gazastreifen hinaus. Im Westjordanland wurden seit dem 7. Oktober 2023 mehr als 350 Palästinenserinnen getötet und mehr als 5.000 Palästinenserinnen gefangen genommen. Damit war 2023 das tödlichste Jahr für Palästinenserinnen im Westjordanland seit dem Jahr 1948, der Staatsgründung Israels, bei der 750.000 Palästinenserinnen aus ihren Häusern vertrieben wurden und etwa 15.000 Palästinenserinnen getötet wurden. Vor dem 7. Oktober 2023 wurden allein im Jahr 2023 mehr als 300 Palästinenserinnen, über 150 davon Kinder, durch die israelische Armee getötet. All diese Verbrechen geschehen in einem rechtsfreien Raum, ohne dass Israel Sanktionen zu befürchten hätte. Das ist kein demokratisches Handeln innerhalb eines funktionalen Rechtsstaates. Israel ist ein Apartheidsstaat, das der israelischen Bevölkerung Demokratie gewährt, während die nach internationalem Recht illegal besetzte palästinensische Bevölkerung systematisch und strukturell entrechtet wird. Die israelische Regierung hat weder den Beweis angetreten, dass sie die Bestimmungen aus dem Beschluss des IGH vom 26.01.2024 umgesetzt hat, noch ist sie der kürzlich verabschiedeten Resolution des VN-Sicherheitsrates vom 25.03.2024 mit Anordnung zu einem sofortigen Waffenstillstand nachgekommen.
Die vorsätzliche Missachtung internationalen Völkerrechts durch Israel erfolgte sogar mit Ansage durch dessen Premierminister Benjamin Netanjahu, der am 14.01.2024 verkündete: „Niemand wird uns aufhalten – nicht Den Haag, nicht die Achse des Bösen und auch sonst niemand“. Trotz dieser Absichtserklärungen liefert die Bundesregierung weiterhin Kriegswaffen nach Israel und verletzt damit eigene Vergaberichtlinien und verstößt eklatant gegen internationales Völkerrecht. Der 7. Oktober 2023 wird als isoliertes Ereignis gesehen und daraus ein Selbstverteidigungsrecht Israels abgeleitet, ohne die über 75 Jahre andauernde israelische Besatzung, Ausbeutung und Unterdrückung der palästinensischen Zivilbevölkerung anzuerkennen und zu kontextualisieren.
Unsere Pflicht, der völkerrechtswidrigen Politik der Bundesregierung entschieden zu widersprechen, leitet sich nicht zuletzt auch aus § 60 Bundesbeamtengesetz in Verbindung mit Art. 25 GG sowie der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und der Eilrechtsschutzentscheidung des IGH vom 26.1.2024 ab. Wir beziehen uns mit diesem Schreiben auch auf die „Erklärung der transatlantischen Beamtinnen zu Gaza: Es ist unsere Pflicht, uns zu äußern, wenn die Politik unserer Regierungen falsch ist“, veröffentlicht am 2. Februar 2024. Mit dem Schlagwort der „Staatsräson“ wird ein vermeintlich juristischer Begriff kreiert, der sich weder definieren lässt noch irgendwo gesetzlich oder verfassungsrechtlich verankert ist. Dieser Begriff wird sodann zur Rechtfertigung der eigenen Politik immer wieder herangezogen und hat damit die bedingungslose Unterstützung eines Unrechtsstaates zur Folge. Insbesondere muslimische Mitbürgerinnen werden von der Bundesregierung unter Generalverdacht gestellt und gezwungen, sich zu Israel zu bekennen oder andernfalls zu Unrecht als Antisemit*innen an den Pranger gestellt und mit dem Entzug ihrer Grundrechte bedroht. Damit schürt die Bundesregierung Angst, anstatt den Begriff der Staatsräson zu definieren und sich dem in Deutschland festverankerten strukturellen antimuslimischen Rassismus und dem Antisemitismus ernsthaft anzunehmen. Sinnbildlich für diese Einseitigkeit ist die Missachtung des Bundeskanzlers der Trauer der in Deutschland lebenden palästinensischen Angehörigen. Öffentliche Beileidsbekundungen gab es von ihm nur für israelische Angehörige.
Mit Blick auf die historische Verantwortung Deutschlands im Zusammenhang mit mehreren von Deutschland in der jüngeren Geschichte begangenen Genoziden sehen wir es daher als Pflicht der Bundesregierung, hier ihrer historischen Verantwortung nachzukommen und ihre völkerrechtswidrige und einseitige Unterstützung Israels unverzüglich zu beenden und die Reputation Deutschlands, die hierdurch empfindlich Schaden davon getragen hat, wenigstens teilweise wiederherzustellen. „Nie wieder“ ist JETZT und deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, folgende Maßnahmen unverzüglich einzuleiten bzw. aktiv zu unterstützen:
- Deutschland hat sich entschieden und unmissverständlich gegenüber Israel und allen internationalen Gremien für einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen einzusetzen;
- Deutschland hat Waffenlieferungen an die israelische Regierung mit sofortiger Wirkung einzustellen;
- Deutschland muss alles in seiner Macht Stehende tun, um Israel dazu zu veranlassen, Hilfslieferungen unverzüglich in den Gazastreifen zu lassen. Jede weitere Verzögerung seitens Israels muss sanktioniert werden und Deutschland muss entsprechende Maßnahmen, die in seiner eigenen Sphäre liegen auch umgehend einleiten. Dazu gehört das Einfrieren politischer wie auch wirtschaftlicher Beziehungen mit Israel.
- Deutschland hat die Zahlungen an UNRWA im Gazastreifen mit sofortiger Wirkung wieder aufzunehmen, u.a. auch weil es bis heute keine Beweise der israelischen Regierung für ihre haltlosen Anschuldigungen gegen das VN Hilfswerk gegeben hat.
- Schließlich muss sich Deutschland entschieden für die Anerkennung eines palästinensischen Staates innerhalb der völkerrechtlich festgelegten Grenzen aus der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates von 1967 aktiv einsetzen.
Bedauerlicherweise werden Stimmen, die das völkerrechtswidrige und menschenverachtende Vorgehen der israelischen Regierung kritisieren, durch die Bundesregierung systematisch ruhiggestellt und Kritiker*innen werden marginalisiert und kriminalisiert (z.B. Berlinale 202413, wöchentliche Demonstrationen, Soziale Medien, etc.). Auch wir befürchten im Zusammenhang mit unserer Meinungsäußerung eine Kriminalisierung und Pönalisierung, weshalb wir die Namen der Unterzeichnenden bewusst nicht offenlegen. Es ist verstörend und eine äußerst besorgniserregende Entwicklung, dass die vom Grundgesetz geschützte Meinungsäußerungsfreiheit in Deutschland im Jahr 2023 und 2024 so sehr eingeschränkt ist, dass wir uns zu diesem Schritt veranlasst sehen.
Berlin, im April 2024