Von der Unmoral der Moral

Warum Israels genozidaler Gaza-Krieg als Konsequenz eigentlich die politisch-moralischen Maßstäbe des Westens verändern müsste, es aber ganz offensichtlich nicht tut

von Arn Strohmeyer

Der Politologe Vittorio Hösle hat ein 1200-Seiten-Werk über politische Moral geschrieben. Man kann dieses dicke Buch nur querlesen, ein Satz daraus hat sich mir aber tief eingeprägt, weil er auf den gegenwärtigen Krieg Israels im Gazastreifen genau zutrifft: Man müsse sehr darauf achten, dass man bei einem Krieg, der aus Rachegründen geführt wird, nicht selbst zum Bösen wird, das man bekämpfen will. Denn wenn man das Böse vernichtet, aber am Ende eines Eskalationsprozesses selbst zum Bösen wird, hat das Böse gesiegt.

Genau das ist Israels gegenwärtige Situation: Wenn dem zionistischen Staat nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 nach dem Völkerrecht ein Selbstverteidigungsrecht zustand, das sich aber an der Verhältnismäßigkeit auszurichten hat, so hat Israel sich an dieses eherne Gesetz in keiner Weise gehalten, sondern hat völlig maß- und hemmungslos auf einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen umgeschaltet – getreu den Ankündigungen seiner Politiker und Militärs, den „wilden Tieren“ in Gaza den tödlichen Garaus zu machen.

Das Ergebnis ist bekannt: eine völlig zerstörte Region, in der Leben kaum noch möglich ist, über 40 000 Tote (zwei Drittel davon Frauen und Kinder) und unter den Trümmern noch über 10 000 vermutete Tote. Nicht nur der Internationale Gerichtshof (IGH) erhebt den Vorwurf des Völkermords, auch die israelischen Holocaust- und Genozidforscher Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal sehen die Kriterien für einen Völkermord erfüllt. Das endgültige Urteil des IGH steht noch aus, wird aber sicher in diese Richtung gehen.

Interessant und aufschlussreich sind nun die politisch-moralischen Schlussfolgerungen, die aus Israels Genozid gezogen werden müssten. Israel selbst kennt nur ein Ziel: wegen des 7. Oktober die vollständige Vernichtung der Hamas. Wenn es indirekt dennoch mit dieser Organisation verhandelt, dann nur, um die noch in ihrer Gewalt befindlichen Geiseln freizubekommen. Ansonsten schließt der zionistische Staat jeden Kontakt mit der Hamas aus, er ist kein Partner für künftige Verhandlungen, obwohl die Hamas mit Sicherheit eine Mehrheit in der palästinensischen Bevölkerung vertritt. Aber Kompromisse kennt der Zionismus nicht. Wer jüdisches Blut vergießt wie am 7. Oktober, der ist ewig geächtet und wird ein Opfer der Rache sein.

Es sei aber angemerkt, dass die Hamas auch vor dem 7. Oktober schon kein Partner für Israel war. Sie war zwar nützlich, weil sie die Spaltung des palästinensischen Volkes besiegelte. Und Israels Regierungschef Netanjahu ließ ihr sogar viel Geld aus dem Scheichtum Katar zukommen – alles nach der Devise: Teile und herrsche! Als die Hamas die Wahlen 2006 in den palästinensischen Gebieten gewonnen hatte, hat Israel mit Zustimmung des Westens diesen Wahlsieg nicht anerkannt, die Bildung einer gemeinsamen nationalen palästinensischen Regierung verhindert und die frei gewählten Abgeordneten verhaftet. Den anschließenden (gescheiterten) Putschversuch der Fatah gegen die Hamas hat Israel natürlich auch unterstützt.

Um aber auf die Moral zurückzukommen: Israel meint für die Verachtung der Palästinenser, die rassistische Ausmaße hat, gute Gründe zu haben. Die Palästinenser sind in der Sicht der Zionisten Menschen einer niederen Art – „menschliche Tiere“ (so der jetzige Verteidigungsminister Joaw Gallant) und „Tiere auf zwei Beinen“ (so der frühere israelische Ministerpräsident Menachem Begin). Viele weiter Beispiele für solche Menschenverachtung ließen sich anführen. Wie sich eine solche Sicht mit der Verantwortung aus den nötigen moralischen Schlussfolgerungen aus dem Holocaust verträgt, die Israel ständig für sich beansprucht, müssen die Zionisten selbst beantworten.

Hinter der Verachtung der Palästinenser stecken aber handfeste politische Gründe: Man will unter gar keinen Umständen Land für einen palästinensischen Staat abgeben, was die Voraussetzung für eine Friedenslösung wäre, verleiht den Palästinensern deswegen einen minderen menschlichen Status und schaltet sie so als seriöse Verhandlungspartner aus. Begründet wird das auch damit, dass der Zionismus eine eigene Moral habe und die universellen Menschenrechte ihm nichts bedeuten. Verteidiger der Menschenrechte werden in Israel der israelischen Soziologin Eva Illouz zufolge als „Verräter“ angeprangert.

Nun könnte man das als Eigenart des Zionismus hinnehmen, wenn diese Ideologie und ihre Auffassung von Moral nicht so furchtbare Gewalttaten zeitigen würden. Die ganze Geschichte des Konflikts mit den Palästinensern und Israels Kriege zeugen davon. Erstaunlich und äußerst bemerkenswert ist, dass die internationale Gemeinschaft (speziell die westlichen Staaten unter Führung der USA) Israel eine solche Haltung und Vorgehensweise zugestehen. Natürlich kann man dafür geostrategische Gründe anführen (Israel ist der „Flugzeugträger“ der USA und der NATO im Nahen und Mittleren Osten), andererseits behauptet der Westen aber selbst, einem universellen Wertekatalog verpflichtet zu sein.

Diese Verpflichtung ist aber höchst zweifelhaft, gilt sie doch nur, wenn sie mit den westlichen ökonomischen und militärischen Interessen übereinstimmt. Der Westen hat von Israel nie verlangt, die universellen Werte einzuhalten. Dieser Staat kann machen, was er will, ihm ist „alles erlaubt!“ Müssen andere Staaten bei Nicht-Wohlverhalten sofort mit politischem Druck, Sanktionen oder sogar einer militärischen Invasion rechnen, Israel wird nie zur Verantwortung für seine Untaten gezogen.

Um diese Aussage auf den konkreten Fall anzuwenden: Bei dem Überfall der Hamas am 7. Oktober sind etwa 1200 Menschen ums Leben gekommen. Ein klarer Fall von Kriegsverbrechen, wobei aber noch zu klären bleibt, wieviel Menschen die israelische Armee bei ihrem verspäteten Eingriff in das Geschehen getötet hat. Der Überfall der Hamas soll hier aber in keiner Weise bagatellisiert werden. Im Anschluss hat Israel aber in seinem Rachefeldzug im Gazastreifen bis jetzt – wie schon beschrieben – über 40 000 Menschen (mit den Toten unter den Trümmern wahrscheinlich über 50 000) umgebracht, legt eine ganze Region in Schutt und Asche und entzieht damit über zwei Millionen Menschen die Existenzgrundlage. Allein aus diesen Zahlen ergibt sich der schreiende Widerspruch: Israel bleibt in westlicher Sicht ein geachteter Staat und Mitglied der Staatengemeinschaft, während man der Hamas in Politik und Medien das Etikett „Terror-Organisation“ anhängt und sie auf ewig für geächtet erklärt. Die Doppelmoral bzw. das Messen mit zweierlei Maß, die hier praktiziert werden, suchen ihresgleichen.

Fügt man dem hier Gesagten noch das historische Faktum hinzu, dass Israel in dem nun über 100 Jahre andauerndem Krieg mit den Palästinensern unzählige Massaker mit Tausenden von Toten an Angehörigen dieses Volkes begangen hat, wird der schreiende Widerspruch noch größer. Den Palästinensern hängt man insgesamt das Etikett des „Terrors“ an, obwohl ihre Gewalt immer defensiven Charakter hat und hatte, weil sie ein Auflehnen gegen Unterdrückung, Vertreibung, Kolonisierung und Besatzung ist.

Der palästinensische Intellektuelle Edward Said (1935 – 2003) hat das schon vor Jahrzehnten festgestellt und hat damit heute so Recht wie damals: „Die Palästina-Frage ist kein gigantisches Monstrum, das die gesamte Welt zu vergiften droht. Aber auf eben diese Weise ist sie bislang dargestellt worden. Zuerst weigert sich der Zionismus, die Existenz der einheimischen Bewohner Palästinas anzuerkennen; nachdem dies nun unumgänglich geworden war, billigte er den Einheimischen keine politischen oder nationalen Rechte zu. Als aber die Einheimischen ihre Rechte zu fordern begannen, wurde die westliche Welt systematisch dahingehend instruiert, den Kampf um diese Rechte mit Terrorismus, Völkermord und Antisemitismus gleichzusetzen. Dies ist nicht nur unsinnig, sondern es legitimiert sogar noch die Berechtigung, die über ein Jahrhundert anhaltende Gewalt gegenüber Palästinensern weiter fortzuführen und sich unendlich lange der Geschichte und ihrem Wahrheitsanspruch zu entziehen. Schlimmer noch: Eine derartige Haltung garantiert die kontinuierliche Zunahme an Gewalt, Leiden, sinnlosen Verlusten und ‚vergeblichen Sicherheitsvorkehrungen‘.“

Was folgt aus dem Gesagtem? Der Westen und Israel praktizieren mit ihrer Politik einen Werte-Nihilismus, soll heißen: die westliche Politik betreibt mit dem Nicht-Befolgen bzw. groben Verletzen der von ihr selbst propagierten Werte eben den Verfall dieser Werte. Er erhebt die Unmoral zur Moral, ja ein völliger politisch-moralischer Bankrott kann nicht ausgeschlossen werden. Im globalen Süden hat man den Widerspruch in der Moral des Westens längst erkannt. Der Ägypter Mohamed El Baradei, der frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, schreibt dem Westen und damit auch den Deutschen ins Stammbuch: „Darüber hinaus hat die arabische bzw. die muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht. (…) Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg ein Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.“

Es sieht aber nicht so aus, als ob der Westen bereit sei, seine moralischen Grundpositionen zu ändern. Ganz im Gegenteil: Die USA subventionieren Israel weiter mit Milliarden von Dollars, militärischem Beistand und liefern an diesen Staat die modernste Waffentechnik. Auch Deutschland liefert weiter Kriegsgerät. Und Bundeskanzler Olaf Scholz bleibt dabei, dass Deutschland aus Verantwortung für den Holocaust Israel beistehen müsse (Staatsräson) und dass Israel sich bei seinem Vorgehen im Gazastreifen an das Völkerrecht und die Menschenrechte halte. Kann man solche Schlussfolgerungen wirklich aus dem Holocaust und aus dem Geschehen in Gaza ziehen? Kann das Dulden eines Genozids durch die Staaträson gedeckt und gerechtfertigt werden? Scholz musste sich von der israelischen Journalistin Amira Hass sagen lassen, dass die deutsche Politik durch ihre Akzeptanz der israelischen Gewaltpolitik den Holocaust „verraten“ habe.

Der israelische Anthropologe Jeff Halper hat den eklatanten Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein speziell in der israelischen Politik beschrieben. Er ist nicht bereit, den Schein aufrechtzuerhalten und Israel eine „normale“ Staatlichkeit zu bescheinigen. Halper spricht offen aus, was die israelische Politik wirklich ausmacht und wie der Westen sie einschätzen müsste, hielte er sich wirklich an Werte. Er bezeichnet das Vorgehen dieses Staates als „Staatsterrorismus“ und begründet das so: „Wichtig ist, dass sowohl ‚Araber‘ als auch Juden als vor-staatliche Milizen – und die Palästinenser/innen befinden sich immer noch in dieser Phase – ihre Zuflucht zum Terrorismus nahmen, den beide Seiten als eine effektive, sogar ausschlaggebende Strategie zur Erreichung politischer Ziele ansahen. Wichtig ist es festzuhalten, dass die jüdische Zuflucht zum Terrorismus 1948 nicht endete. Er wurde nur umgewandelt in eine Politik des Staates und als Methode in Israels offizielle Streitkräfte integriert. Die gewaltsame Ent-Arabisierung und Judaisierung des Landes Israel/Palästina, die massiven Häuserzerstörungen von 1948 bis heute, sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten, ein vierzig Jahre (und länger) dauernder Krieg gegen Zivilisten/innen, um eine Besatzung auf ewig zu verlängern, wiederholte und rücksichtslose Angriffe auf den Libanon einschließlich der fern ‚gesteuerten‘ Massaker von Sabra und Schatila, eine Jahrzehnte währende Praxis der Ermordung palästinensischer Führungskräfte, die die Palästinenser einer effektiven politischen Führung beraubte – diese und andere Strategien und Aktionen machen den Israelischen Staatsterrorismus aus.“

Unter Bezug auf das Völkerrecht fährt Halper fort: „Das humanitäre Völkerrecht, im Besonderen die IV. Genfer Konvention, misst dem Schutz und dem Wohlergehen einer Zivilbevölkerung unter Besatzung eine besondere Bedeutung zu. Israel versucht, diese Verantwortung in vielfältiger Weise zu umgehen, sogar indem es die Tatsache der Besatzung selbst in Abrede stellt. Mit dem Ausbruch der zweiten Intifada boten sich ihm neue Möglichkeiten, Beschränkungen seines militärischen Vorgehens zu vermeiden. Israel erklärte die Intifada knapp als unterhalb der Kriegsschwelle und berief sich auf ein im Völkerrecht unbekanntes Konzept des ‚kriegsähnlichen Konflikts‘“.

Und weiter schreibt Halper: „Unterdrückte Völker haben nach dem Völkerrecht das Recht auf Widerstand, selbst auf bewaffneten Widerstand, wobei allerdings Angriffe auf Zivilisten ausgeschlossen sind. Der Begriff des „kriegsähnlichen Konflikts“ denunziert alle Formen des Widerstandes als ‚Terrorismus‘, gar als kriminelle Handlungen, wodurch das palästinensische Menschenrecht auf Selbstbestimmung praktisch aufgehoben wird. Dieses Konstrukt enthebt Israel jeder Verantwortung für Staatsterrorismus, für Angriffe auf die zivile Bevölkerung, die nach dem Völkerrecht auch dem Besatzer verboten sind.“

Halper fährt fort: „Seine Erfindungsgabe stellt dem Militär einen unbeschränkten Freibrief aus, alles unter dem Deckmantel eine ‚kriegsähnlichen Konflikts‘ ohne jede Zurückhaltung oder Verantwortlichkeit zu sehen. Palästinensische Politiker und alle, die legitimen Widerstand leisten, können so ‚legal‘ ermordet werden, wobei die Tötung von Zivilisten als Kollateralschäden gerechtfertigt wird. Unter denselben Vorzeichen können Tausende von Palästinensern festgenommen und unbefristet eingesperrt werden, ohne dass ihnen der Status und die Rechte von Kriegsgefangenen zugestanden würden. Unglücklicherweise ist das internationale Staatensystem noch nicht so weit entwickelt, dass seine Gesetze durchgesetzt werden könnten, sodass es außer Israel für seine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, wenig gibt, was wir tun könnten, um seine Übergriffe zu beenden.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Arn Strohmeyer wuchs in der DDR und später in Soest (Westfalen) auf. Nach dem Abitur in Göttingen studierte er Philosophie, Soziologe und Slawistik an der Universität Göttingen und anschließend an der Universität Bonn. Nach dem Magisterexamen war er als Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen, unter anderem beim Weser-Kurier, und einer politischen Monatszeitschrift tätig.

 

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