1.
Konnte Zeitenwendekanzler Scholz am 02. Juli 2022 in seiner Videobotschaft an die Nation noch mit praktischen Ratschlägen – „Wenn wir uns unterhaken und zusammenhalten, sind wir stark“ – zur Festigung des nationalen Selbstgefühls beitragen, warnte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schon im Mai 2022 beim Ostseerat in norwegischen Kristiansand vor einem „Moment der Fatigue.“
Was im Sinne der Ministerin von Taz bis FAZ als „Kriegsmüdigkeit“ übersetzt wurde, soll nun, zwei Jahre später, mit geballter politischer und medialer Macht in Kriegsbereitschaft, Kriegstüchtigkeit und Kriegsbegeisterung verwandeln werden, nachdem sich herumgesprochen hat, dass es nicht genügt, die Ukraine mit Finanzmitteln und Mordgerät in Höhe von annähernd 30 Milliarden Euro auf eine Siegerstraße zu befördern, die sich als blutige Sackgasse erwiesen hat. Jetzt also muss, wie Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa, am 06.03.2024 im SWR forderte, „eine Zeitenwende in unseren Köpfen“ her, und zwar nicht in seinem eigenen gutbezahlten Kopf, sondern in den Köpfen der sogenannten „breiten Gesellschaft“, die „noch gar nicht verstanden hat, in welcher Konfrontation mit Russland wir uns befinden.“
Die „Zeitenwende in den Köpfen“ war bei den Teilnehmern der „Victory-for-Peace“-Kundgebung am 24.02.2024 in Berlin längst angekommen, weshalb Roderich Kiesewetter (CDU) keine Mühe hatte, die Menge mit einem Vers von Friedrich Nietzsche (1844-1900), dem deutschesten aller Dichter und Philosophen, zu begeistern. Dieser hatte sich in seiner autobiografischen Schrift „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ in konsequenter Selbstüberhöhung als Figur von weltbewegender Größe halluziniert, bevor er, nicht weniger konsequent, in geistige Umnachtung fiel. „Ich weiß“, schrieb er ein halbes Jahr vor seinem endgültigen Zusammenbruch, „woher ich stamme. Ungesättigt gleich der Flamme glühe und verzehr´ ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse, Flamme bin ich sicherlich.“
2.
Konsequente autosuggestive Selbstüberhöhung im ökonomischen Abstieg kennzeichnet auch die bundesrepublikanische Elite, die nach 1914 und 1941 den dritten Versuch unternimmt, als selbsternannter europäischer Hegemon gegen Russland aufzutreten, um Russland zu beseitigen. Pleiten, Pech und Pannen pflastern seither ihren Weg, doch ein Kiesewetter wäre kein Kiesewetter, könnte er die nationale Schwäche nicht mit aggressiven militärischen Forderungen – „Der Krieg muss nach Russland getragen werden!“ – und einem Rückgriff auf den kranken Nietzsche kompensieren: „Wir brauchen ein neues Wir, eine neue Flamme, eine Kraft, eine Begeisterung“, rief er der jubelnden Menschenmenge zu. Denn: „Licht wird alles, was wir fassen, Kohle alles, was wir lassen!“
Ob dieses erhebende Fanal in den Geschichtsbüchern kommender Generationen neben der wilhelminischen Hunnenrede und der Sportpalastrede des Reichspropagandaleiters Joseph Goebbels – „Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!“ – gewürdigt werden wird, bleibt abzuwarten. Einen Volkssturm auf die Rekrutierungsbüros für Söldner und andere Helden hat Kiesewetters Rede vor dem Brandenburger Tor jedenfalls nicht ausgelöst. Und auch der Ruf aus Kiew an die in Deutschland lebenden männlichen Ukrainer, sich an der Front für die korrupte ukrainische Führung zu opfern, ist ungehört verhallt. Was zeigt, dass mit Begeisterung allein der Krieg nicht gewonnen werden kann.
3.
Das wissen auch andere Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Anton Hofreiter und Norbert Röttgen, die gemeinsam mit Roderich Kiesewetter angetreten sind, dem Kanzler Beine zu machen, andernfalls er als Wehrkraftzersetzer öffentlich gesteinigt wird. Wie das geht, haben Hofreiter und Röttgen am 11. März in der FAZ unter der Überschrift „Der katastrophale Defätismus des Kanzlers“ in unübersehbarem Nazi-Jargon demonstriert. Scholz mag sich seiner Taten rühmen, mag aufzählen, was er für die Ukraine schon geleistet hat und „as long as it takes“ noch leisten wird, weil „Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf.“ Doch wer dem von Russland belauschten Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, einem unserer „besten Offiziere“ (Pistorius), das Verbot erteilt, ukrainische Soldaten in der Bedienung der deutschen Wunderwaffe Taurus zu schulen, damit die Krim-Brücke oder der Moskauer Kreml endlich zertrümmert werden kann, macht sich schuldig des Verrats, indem er Putin ermutigt, „Völkerrecht und internationale Verträge zu brechen und Länder zu überfallen ohne ernsthafte Konsequenzen.“
4.
Dass es in Deutschland noch nicht selbstverständlich ist, „die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“ gegen Russland zu marschieren, zeigt eine deutliche Mehrheit von 61%, die sich im ARD-Deutschlandtrend vom 07.03.2024 gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ausgesprochen hat. Doch das Wutgeheul über den Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden der SPD Rolf Mützenich, den Krieg beim Stand der Dinge einzufrieren, lässt darauf schließen, dass die Mehrheitsverhältnisse im deutschen Bundestag von den olivgrünen, frei- und christdemokratischen Waffen-Fetischisten als veränderbare Größen betrachtet und bis zum möglichen Bruch der Ampelkoalition bearbeitet werden.
Sollte der Krieg bis dahin eingefroren sein, wird er eben wiederaufgetaut.
Epilog
„Das schlimmste Übel, unter dem die Welt leidet, ist – ich habe es gar manches Mal gesagt – nicht die Macht des Bösen, sondern die Schwäche der Besten. Und diese Schwäche hat ihren Ursprung in der Willensträgheit, in der Angst vor dem eigenen Urteil, in der moralischen Furchtsamkeit. Die Kühnsten sind, kaum ihrer Ketten ledig, nur zu glücklich, sich andere anlegen zu lassen; man erlöst sie von einer gesellschaftlichen Wahnvorstellung nur, um zu sehen, wie sie sich selber vor den Wagen einer neuen Wahnvorstellung spannen lassen. Nicht mehr selber denken müssen, sich lenken lassen … Dieses Abdanken ist der Kern allen Übels.“ (Romain Rolland, 1866-1944)