Bremer Gericht schützt israelkritische Parolen

Das war wirklich eine faustdicke Überraschung! Wie der Weser Kurier am 26. April 2024 meldete, hat das Verwaltungsgericht Bremen in einem Eilverfahren entschieden, dass mehrere Verbotsauflagen, die das Ordnungsamt Bremen gegen die letzten Free-Gaza!-Demonstrationen erlassen hatte, rechtswidrig seien. Im Weser Kurier wird aus dem Urteil berichtet: „Wer auf Demonstrationen ‚Kindermörder Israel‘ ruft oder diese Parole als Banner trägt, macht sich nicht der Volksverhetzung strafbar. Es ist auch keine auch keine Störung des öffentlichen Friedens, geschweige denn eine Billigung oder gar Aufforderung zu Straftaten – es ist vielmehr eine vom Grundgesetz geschützte Wahrnehmung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.“

„Offensichtlich rechtswidrig'“ seien hingegen Auflagen der Innenbehörde, die sich gegen diese und andere Israel-feindliche Äußerungen richteten. Vor der ‚Demo gegen Waffenlieferungen nach Israel‘ am vorigen Sonnabend hatte das Ordnungsamt 17 verschiedene Auflagen gemacht. Danach sollten Kennzeichen und Symbole von Terrororganisationen wie der Hamas ebenso verboten sein wie die ‚Kindermörder‘-Parole. Aber auch Abbildungen des israelischen Staatsgebietes, ausgefüllt mit den Farben der palästinensischen Flagge, wurden untersagt. Verboten wurde schließlich der bereits vom Bundesinnenministerium als Hamas-typisch geächtete Slogan „From the river to the sea / Palestine will be free“.


Das gesamte 12-seitige Urteil hier.
Heute (27.04.2024) erscheint im Weser Kurier ein Doppelinterview zu dem Urteil Es äußern sich Murat Çelik (Schura) und Grigori Pantijelew (Jüdische Gemeinde) zur aktuellen Situation.


Geradezu sensationell an dem Urteil ist vor allem die Aufhebung des Verbots der Parole „Kindermörder Israel“. Wie der Weser Kurier berichtet, heiße es In der siebenseitigen Begründung des Gerichts, dass die Parole keineswegs nur ein antisemitisches Klischee sei. Es sei „nicht ausgeschlossen, dass hiermit nicht jüdische Menschen, sondern der Staat Israel als politischer Akteur gemeint ist“. Schließlich seien „im Rahmen des Krieges in Gaza auch Kinder zu Tode gekommen“. Das Gericht kritisierte damit deutlich die in der deutschen Medienöffentlichkeit üblich gewordene Auffassung, dass jede Kritik an der israelischen Regierung schon per se antisemitisch sei.

Erwirkt hatte das Urteil die Bremerin Ranya Dakkour in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Die Innenbehörde habe noch versucht, gegen die aufschiebende Wirkung der Klage vorzugehen, sei aber damit gescheitert. Die Grundrechte der Antragstellerin würden in diesem Einzelfall, so das Gericht, schwerer wiegen als die nach der Einschätzung der Versammlungsbehörde vorliegenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit.

Die Folge war, dass auf der Demo „Gegen Waffenlieferungen nach Israel“ am 20. April 2024 (14 Uhr ab Leibnizplatz) die vorher verbotenen Parolen gerufen werden durften – was auch lautstark geschah. Auf der Demonstration „Free Gaza! Free Palestine!“, die am gleichen Tag (Beginn 15.30 Uhr) – angemeldet und organisiert von der Palästinensischen Gemeinde Bremen – ab Hauptbahnhof stattfand, mussten die Verbotsauflagen des Ordnungsamtes jedoch eingehalten werden. Diese wurden wieder in voller Länge vorgelesen, und die Polizei überwachte wie üblich die Durchführung.

Die drei Richter des Bremer Verwaltungsgerichts urteilten offenbar in die gleiche Richtung wie der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Frankfurt. Dieser hatte in seinem Urteil am 22. März 2024 festgestellt, dass die Strafbarkeit der Parole „From the River to the Sea, Palestine Will Be Free!“ äußerst zweifelhat sei, und das Verbot also aufgehoben. Der Shitstorm in der deutschen Medienöffentlichkeit ließ nicht lange auf sich warten, schließlich war das Verbot dieser Parole zum juristischen common sense in Deutschland geworden.

Das Bremer Gericht muss sich ebenfalls auf einiges gefasst machen. Kurz nach Bekanntwerden des Urteils gab es Pressemitteilungen aus der Bürgerschaft:

  • Kevin Lenkeit (SPD) hielt den Beschluss für „brandgefährlich angesichts zunehmender antisemitischer Straftaten“,
  • Marcel Schröder (FDP) meinte, das „Sicherheitsgefühl der Jüdinnen und Juden in unserem Land“ werde geschwächt.
  • Marco Lübke (CDU) verwies darauf, dass die Bürgerschaft erst im Februar 2022 die Landesverfassung geändert habe, um genau das zu verhindern.
  • Henrike Müller (Grüne) formulierte erwartungsgemäß mit besonderer Schärfe: „Auch nach diesem Urteil gibt es keinen Freibrief für antisemitische Äußerungen, Beschimpfungen und Hetze. Und es ist keine Option, offenen Antisemitismus auf Demonstrationen oder anderen Versammlungen zu tolerieren.“
  • Grigori Pantijelew (Jüdische Gemeinde“ sah für die Zukunft schwarz: „Jetzt müssen sich die Juden zumindest in Hessen und Bremen die Frage stellen, ob wir hier willkommen sind.“

Eigentlich ist es ja Konsens, dass die Unabhängigkeit der Justiz betont und Gerichtsurteile respektiert werden. In diesem Fall ist alles anders. Das Gericht wird in aller Schärfe kritisiert, und seine Begründungen entweder nicht gelesen oder jedenfalls nicht zur Kenntnis genommen. Die Richter hatten ja gerade mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die Kritik an der israelischen Politik in Gaza nicht automatisch antisemitisch und damit als Volksverhetzung verboten sei.

In Bremen ist das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht das letzte Wort in diesem ideologischen Kampf um die Zulässigkeit von Parolen. Wie der Weser Kurier berichtet, wird das Innenressort gegen das Urteil sofort Rechtsmittel beim Oberverwaltungsgericht einlegen.

Für die Demonstration heute, am 27. April 2024, die wieder von der Palästinensischen Gemeinde angemeldet worden ist, gelten offenbar ohne Abstriche die alten Auflagen wie vor einer Woche. Mehr noch. Wie der Weser Kurier berichtet, hat die Versammlungsbehörde den Verbotskatalog sogar noch erweitert. Verboten werden in Zukunft auch Popsongs von Mohammad Kassam („Erhebe die Kuffiya“) und Joulia Boutros („Wo sind die Millionen?“) sowie anti-jüdische arabische Slogans. Insgesamt umfassen die Auflagen und Hinweise vier Seiten zusätzlich.
Sönke Hundt

Der sehr ausführliche Bericht Joerg Helge Wagner im Weser Kuriers hier.