Der Sigmar mit dem Eisenfuß

Foto: Martin Kraft (photo.martinkraft.com)

1.

„Warum ist heute nicht möglich, was 1970 möglich war, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos niederkniete?“ fragt Ulrich Heyden am 01. Juni 2024 in einem Beitrag für Global Bridge. Ganz ähnlich Sarah Wagenknecht, die am 30. Mai auf der Bremer BSW-Kundgebung eine Rückkehr zur Brandt´schen Entspannungspolitik forderte, also genau das, was die SPD inzwischen offiziell als „historischen Fehler“ bereut, damit in der Bild-Redaktion niemand auf den Gedanken kommt, dem sozialdemokratischen Führungspersonal Feigheit vor dem Feind oder andere Primärtugenden vorzuwerfen.

Auch ein „historischer Fehler“? Willi Brandt am Ghetto-Ehrenmal, Warschau 1970

„Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können“, schrieb der Spiegel-Redakteur Hermann Schreiber 1970 über Willi Brandt, wobei er höflich unterschlug, dass die große Mehrheit derer, die es nötig gehabt hätten, in Demut oder Scham vor den Opfern ihrer Mordlust auf die Knie zu gehen, damit beschäftigt waren, ihre Taten zu verleugnen und ihre Niederlage zu beweinen. Brandt konnte, was er tat, nur, weil er dem faschistischen Deutschland rechtzeitig den Rücken gekehrt hatte, um sich dem norwegischen Widerstand gegen die deutschen Invasoren und ihre norwegischen Helfershelfer anzuschließen.

  • Er konnte es, weil es den Deutschen 25 Jahre nach Kriegsende zu dämmern begann, dass die Rückeroberung der verlorenen „Ostgebiete“ vertagt werden musste, nachdem das Projekt „Atombewaffnung der Bundeswehr“ am Widerstand der westdeutschen Friedensbewegung und der USA gescheitert war.
  • Er konnte es, weil die deutsche Wirtschaft, um als Hegemon in Westeuropa aufzutreten, auf die Lieferung preiswerter Energieträger in Form von sowjetischem Öl und Gas angewiesen war.
  • Er konnte es auch, weil das Scheitern der USA im Kampf gegen den Kommunismus, insbesondere die absehbare militärische Niederlage in Vietnam, von einer damals noch intelligent geführten SPD dazu genutzt wurde, ihre eigene Agenda durchzusetzen.
  • Und nicht zuletzt konnte er es, weil es in Europa mehrere von seiner Sorte gab, auf die er sich verlassen konnte: Palme in Schweden, Mitterand in Frankreich und Kreisky in Österreich.

Weshalb die Frage von Ulrich Heyden, warum Olaf Scholz nicht kann, was Willy Brandt einmal konnte, mit dem Hinweis auf die veränderten Verhältnisse beantwortet werden sollte, was die Kritik an der Verelendung der SPD nicht überflüssig macht.

Ostermarsch Anfang der 60er

1970 wurde Brandt von der Springerpresse für den Abschluss des Warschauer Vertrags, also für die Anerkennung der deutsch-polnischen Nachkriegsgrenze, der sogenannten „Oder-Neiße-Grenze“, als ein Verräter stigmatisiert, der „die Rechte der Ostdeutschen auf Heimat und Selbstbestimmung auf den Müllhaufen der Geschichte“ geworfen habe, derweil Franz Josef Strauß (CSU) sich weigerte, „den Untergang des Deutschen Reiches durch eine Politik des Ausverkaufs ohne Gegenleistungen zu besiegeln“, was den Abschluss des Vertrages und den Kniefall in Warschau nicht verhindern konnte.

2.

Heute fühlen sie sich wieder stark. Und sind empört, wenn die Russische Föderation es wagt, die Weltmeister in der Disziplin Vergangenheitsbewältigung darauf hinzuweisen, dass die Verbrechen ihrer Väter und Großväter aus dem kollektiven Gedächtnis der russischen Bevölkerung noch lange nicht verschwunden sind. So nannte etwa der 46-jährige Felix Ackermann am 09. April 2024 in der FAZ die russische Forderung nach Anerkennung der Blockade Leningrads als Völkermord eine „geschichtspolitische Wahnidee“, wohl wissend, welche Opfer der kolonialrassistische deutsche Wahn allein unter der Zivilbevölkerung der Stadt gefordert hat. Über eine Million Tote – ein „Vogelschiss“, den wegzuwischen die Berliner große Koalition von AfD über FDP, CDU/CSU bis SPD angetreten ist, damit man sich endlich wieder dem Kerngeschäft des deutschen Imperialismus, der Kolonisierung Russlands widmen kann.

Wie der ehemalige SPD-Außenminister Sigmar Gabriel, der seine Karriere als Referent für antimilitaristische Arbeit im Jugendverband Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken begann und heute als Vorsitzender der Atlantik-Brücke alles dafür tut, die SPD bei der transatlantischen Stange zu halten. Nachdem er im Frühjahr 2018 „zunehmend den Eindruck gewonnen (hatte), dass die SPD meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht mehr bedarf“, kündigte er seinen Ausstieg aus der Politik und seinen Einzug in die gepolsterte Welt der Aufsichtsräte an. Seitdem aber Joschka Fischer, Urvater des grünen Bellizismus, im Dezember 2023 medienwirksam mit der überaus originellen These aufgetreten war, die EU brauche „eine eigene atomare Abschreckung“, fühlt sich Gabriel von der ihm eigenen Eitelkeit gedrängt, der bundesdeutschen Öffentlichkeit per ZDF und ARD zu zeigen, dass er auch noch etwas – und sei es noch so hirnverbrannt – zu sagen hat.

Deutsche Streitkultur oder Fünf, die sich einig sind. Von links nach rechts: Ben Hodges, bis Ende 2017 Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa und einer, der es für einen großen Fehler hält, keine US-Bodentruppen in der Ukraine stationiert zu haben; Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Vater einer Tochter, die ihren Vater so sehr liebt, dass sie, wie er nicht ohne Stolz berichten konnte, den häuslichen Bildschirm küsst, wenn sein Gesicht darauf erscheint; Maybrit Illner, Betriebsnudel beim ZDF; Roderich Kiesewetter, Vollpfosten und Nietzsche-Verehrer aus Pfullingen; Michajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Ex-Präsidenten Selenskyj; Sabine Fischer, Russland-Expertin der russophoben Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und eine, die über „feministische Politik im Lichte des Krieges“ schreiben kann, ohne vor Scham im Stiftungsboden zu versinken.

So gab er am 30. Mai 2024 bei Maybrit Illner eine Parole aus, die den Schweißgeruch deutsch-wilhelminischer Männlichkeit verströmt: „Im Grunde müssen wir die Russen so niederkämpfen, wie das mal mit der Sowjetunion gelungen ist.“ Mit „wir“ meinte er vermutlich nicht die SPD, die am Niederkämpfen des Landes nicht beteiligt war, das 1992 nach einer radikalen Marktöffnung mit Inflationsraten von bis zu 2600 Prozent ökonomisch am Boden lag und wenig später nach US-amerikanischer Pfeife zu tanzen begann, bevor Wladimir Putin die Nachfolge des alkoholkranken Boris Jelzin antreten konnte, um den Raubrittern des freien Marktes – den russischen wie den US-amerikanischen – die Zügel anzulegen. Doch egal, bei Illner ging es nicht um Fakten, sondern um die ganz gewöhnliche Klugscheißerei in einem Studio, in dem sich der Gabriel mit dem Kiesewetter einig war wie selten ein Sozial- mit einem Christdemokrat: „Es braucht das klare Signal an Putin: Stopp diesen Krieg – oder wir tragen ihn zu dir.“ Den Krieg in andere Länder tragen scheint, siehe Scharping, die Spezialität einer SPD zu sein, die sich seit über 30 Jahren vom Erbe Willy Brands befreit und jetzt, siehe Gabriel, damit droht, „Putin unseren Eisenfuß“ in den Weg zu stellen, damit er fällt und sich die Nase bricht.

So reden sie Tag aus Tag ein und erzeugen einen Nebel aus Geschwalle und Geschwätz, hinter dem sich verbirgt, was wir nicht sehen und verstehen sollen: Die Interessen nicht nur der deutschen Industrie an den Rohstoffen, die genau dort lagern, wo die russische Armee nach Westen rückt. Das Eigentum der Ukraine? Längst an die verkauft, die ihre Waffen nicht verschenken, sondern per Leasingvertrag oder Kredit abgeben. Die Einheit der Russischen Föderation? Längst verplant, und wie vor 120 Jahren der Nahe Osten von dem Engländer Sikes und dem Franzosen Georges-Picot auf dem Reißbrett aufgeteilt wurde, soll auch Russland nach dem Willen der Nato aufgeteilt werden, und zwar in Teile, die so klein gehalten sind, dass sie keinen Ärger machen können. Freiheit und Demokratie?

„Schtonk!“