Zum besonders schützenswerten Weltkulturerbe erklärt: das St. Hilarion Kloster in Gaza

Am 26. Juli kam es in den Abendnachrichten und am nächsten Morgen in allen Medien: das Weltkulturerbekomittee der UNESCO (Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kommunikation) hat auf seiner Sitzung in Neu Delhi beschlossen, das St. Hilarion Kloster in Gaza unter besonderen Schutz zu stellen. Das berühmte Kloster wird nicht nur in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen, sondern auch in die Liste des gefährdeten Welterbes. Die 195 Vertragsstaaten des Weltkulturerbekomittees verpflichten sich, „vorsätzliche Maßnahmen zu vermeiden, die dieser nunmehr in die Liste des Weltkulturerbes eingetragenen Stätte direkt oder indirekt Schaden zufügen könnten, und zu ihrem Schutz beizutragen. Die Aufnahme in die Liste des gefährdeten Welterbes öffnet automatisch die Tür für verstärkte internationale Mechanismen technischer und finanzieller Hilfe, um den Schutz des Gutes zu gewährleisten und, falls nötig, seine Sanierung zu erleichtern.“ So die Mitteilung auf der Webseite der UNO.

Das Kloster des Heiligen Hilarion in Tell Umm Amer aus dem 4. Jahrhundert n.Chr. ist eine der ältesten christlichen Stätten im Nahen Osten, wurde von dem Heiligen Hilarion gegründet und war die Heimat der ersten Klostergemeinschaft im Heiligen Land. Es liegt an der Kreuzung der wichtigsten Handels- und Austauschrouten zwischen Asien und Afrika und war über Jahrhunderte ein Zentrum für religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Austausch.

Die Frage ist natürlich, inwieweit Israel diesen Verpflichtungen nachzukommen gewillt ist. Israel ist zwar 2017 aus der UNESCO ausgetreten, ist aber noch immer Mitglied der Welterbekonvention. Damit ergibt sich die paradoxe Situation, dass ein Staat, der in seinem Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser in Gaza unzählige Stätten des Kulturerbes schon zerstört hat, sich verpflichtet, das neu in die Liste aufgenommene Weltkulturerbe „St. Hilarion Kloster“ besonders zu schützen.

Die bisher in diesem Gaza-Krieg stattgefundenen Zerstörungen von Kulturgütern sind nur als barbarisch zu bezeichnen. Sie übersteigen eigentlich jedes Vorstellungsvermögen.

In der Anklageschrift der Republik Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof werden die Zerstörungen aufgelistet. Beschädigt oder zerstört wurden:

  • Das Zentralarchiv der Stadt Gaza mit tausenden von historischen Dokumenten
  • Das Zentrum für Manuskripte und antike Dokumente
  • das orthodoxe Kulturzentrum
  • das Al-Quarara-Kulturmuseum
  • das Rafah-Museum
  • das sogenannte neue Museum mit hunderten von kulturellen und archäologischen Artefakten
  • acht archäologische Ausgrabungsstätten
  • die wichtigste Bibliothek
  • Alle vier Universitäten wurden angegriffen.
  • Alle Schulen wurden angegriffen.
  • Insgesamt wurden schätzungsweise 318 muslimische und christliche religiöse Stätten angegriffen.

Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Die Zerstörungen dauern an.

Hamdan Taha, der ehemalige Generaldirektor der palästinensischen Antikenbehörde und zuletzt stellvertretender Minister für Tourismus und Altertümer in Gaza, war auf der Jahrestagung der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft (DPG) am 15. Juni 2024 in Höxter direkt aus Gaza per Zoom zugeschaltet. Sein Bericht war erschütternd. Auf der Grundlage von Zeugenaussagen, Berichten vor Ort und von Satellitenaufnahmen stellte er fest: „Nach den vorliegenden Informationen wurden mehr als 100 archäologische und historische Stätten beschädigt, darunter Moscheen, Kirchen, religiöse Gedenkstätten, Musee, Bibliotheken, Handschriftenzentren, Kultur- und Kunstzentren, Universitäten und akademische Einrichtungen beschädigt. Der Bericht ist veröffentlicht im Palästina Journal (Ausgabe 21, Juni 2024)

Die Frage ist, ob diese Zerstörungen zufällige Kriegsereignisse, sozusagen Kollateralschäden, sind oder ob sie systematisch erfolgten und erfolgen. Das Urteil von Hamdan Taha ist eindeutig: „Die aktuellen Bilder der archäologischen Stätten und historischen Gebäude im Gazastreifen lassen auf die systematische Zerstörung eines kulturellen Erbes schließen, das sich über einen Zeitraum von fünftausen Jahren gebildet hat und heute nur ein Haufen Schutt ist.“ Die Anklageschrift der Republik Südafrika bestätigt diesen Befund: „Das kulturelle Erbe wurde systematisch zerstört und ausgelöscht, mit dem Ziel, die physische und geistig/spirituelle Welt des palästinensischen Volkes unter dem Vorwand der Selbstverteidigung zu zerstören.“

Mounir Anastas, der Botschafter Palästinas bei der UNESCO, begrüßte enthusiastisch die Entscheidungen des Weltkulturerbekomittee in Neu Delhi: „Sie sind eine Botschaft der Hoffnung für unsere Menschen in Gaza, die vor Bomben fliehen und kein Dach über dem Kopf, kein Wasser und keine Nahrung haben. Dennoch sind sie entschlossen, ihr Erbe zu schützen, da dieses Erbe Teil des Gedächtnisses und der Geschichte unseres Volkes ist. Und dies ist auch eine weitere starke Botschaft der internationalen Gemeinschaft an unsere Leute in Gaza, dass die internationale Gemeinschaft euch nicht vergessen hat.“ (Vgl. Arabnews v. 26.07.2024)

Trotz der verständlichen Genugtuung und Freude der Palästinenser über diese Entscheidung bleibt ein tiefes Unbehagen. Von den Zerstörungen und dem notwendigen Schutz vor diesen Zerstörungen ist immer nur in einer merkwürdig passiven Sprache die Rede. So heißt es in der Entscheidung des Welterbekomittees: Das St. Hilarion Kloster in Gaza ist „unter besonderen Schutz zu stellen.“ Und: „Mit dieser Entscheidung wird sowohl der Wert der Stätte als auch die Notwendigkeit anerkannt, sie vor Gefahren zu schützen.“ (vgl. die Mitteilung auf der Webseite der UNO) Dass das Kulturerbe vor den Bomben und Granaten der israelischen Armee geschützt werden muss, dass Israel vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt wird, einen systematischen Völkermord zu begehen, und dass der „cultural genocide“ ein Teil davon ist – davon wird in den Beschlüssen nicht gesprochen. Darüber schweigt die UNESCO.

Dabei ist die UNESCO nicht immer so zurückhaltend. Es gibt einen Präzedenzfall, wo der Täter deutlich benannt wird. Nach den russischen Luftangriffen auf die ukrainische Stadt Odessa, bei denen auch mehrere Kulturstätten beschädigt wurden, darunter die 1794 erbaute Verklärungskathedrale, veröffentlichte die UNESCO umgehend am 23. Juli 2023 eine sehr scharf formulierte Erklärung. Die UNESCO zeige sich zutiefst bestürzt und verurteile den dreisten Angriff der russischen Streitkräfte. In einer weiteren Erklärung sagte Audrey Azoulay, Generaldirektorin der UNESCO: „Ich verurteile diesen Angriff auf die Kultur aufs schärfste und fordere die Russische Föderation auf, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Verpflichtungen nach internationalem Recht nachzukommen, darunter der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954 und der Welterbekonvention von 1972.“ (Vgl. den Bericht in den Palestine Studies v. 28.02.2024, dem auch die Zitate entnommen sind.)

Zu Israel nimmt die UNESCO eine ähnlich entschiedene Haltung nicht ein. „Das ist kaum überraschend; eine solche Heuchelei und Doppelmoral kennzeichnen auch andere internationale Organisationen und westliche Regierungen in Bezug auf den sich entfaltenden Völkermordkrieg gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen. […] Tatsächlich ist es dieser kulturelle und historische Reichtum, den das israelische Regime auszulöschen versucht.“ So lautet der bittere Befund von Mahmoud Hawari. Er war der ehemalige Direktor des Palästinensischen Museums Birzeit und ist Professer für Archäologie an den Universitäten Behtlehem, Birzeit und al-Quds. Die Zitate sind seinem ausführlichen Bericht „Israel Destroys Palestinian Cultural Heritage Sites in Gaza“. (Palestine Studies v. 28.02.2024) entnommen.
Sönke Hundt