Die neuen US-Raketen sind keine Antwort auf die russischen Iskander – Der wahre Grund für die Kündigung des INF-Vertrags
- Gastbeitrag Arno Gottschalk
- 29. August 2024
Die geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wird damit begründet, dass Russland schon seit längerem ähnliche Waffensysteme besitze. Russland habe damit auch den Vertrag über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) aus dem Jahre 1987 verletzt und dessen Kündigung durch die USA in 2019 provoziert.
Diese Darstellung ist jedoch vorgeschoben und lenkt von den tieferliegenden strategischen Motiven ab, die tatsächlich zur Kündigung des INF-Vertrags durch die USA geführt haben und die hinter den Plänen zur Neuaufstellung amerikanischer Raketen stehen.
Die Vorgeschichte der Iskander-Raketen in Kaliningrad
Die russischen Iskander-Raketen in Kaliningrad, einer russischen Exklave zwischen Polen und Litauen, sind seit längerem Thema internationaler Sicherheitsdebatten. Bereits 2008 drohte Russland, dort Raketen mit einer – vom INF-Vertrag erlaubten Reichweite bis 500 km – zu stationieren, falls die USA ihre Pläne, ein Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien zu errichten, nicht aufgeben würden. Das amerikanische Raketenabwehrsystem sollte angeblich Bedrohungen aus dem Iran abwehren. Es wurde von Russland jedoch als Bedrohung seiner strategischen Zweitschlagfähigkeit wahrgenommen. (Und später auch als mögliche Startrampe für US-Marschflugkörper). Der damalige russische Präsident Medwedew schlug deshalb 2008 eine Nulllösung vor: keine amerikanische Raketenabwehr in Europa, keine Iskander-Raketen.
Nach einer Überprüfung der Raketenabwehrpläne durch den neuen US-Präsidenten Barack Obama wurde das ursprüngliche Projekt in 2009 gestoppt, und Russland verkündete daraufhin, auf die Stationierung der Iskander-Raketen in Kaliningrad zu verzichten. In 2010 beschloss die NATO jedoch, ein Raketenabwehrsystem – genannt Aegis Ashore – gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen in Rumänien und später in Tschechien aufzubauen. Russland bezweifelte erneut, dass der Iran der wahre Grund sei, bot aber an, die Raketenabwehr als gemeinsames Projekt mit Radarstationen in Südrussland zu realisieren. Das lehnten die USA ab, mit der Folge, dass Russland – „Dieses System ist zu 1.000 Prozent gegen uns gerichtet“ – erneut mit der Aufstellung von Iskander-Raketen in Kaliningrad drohte. 2016 wurde die US-Raketenabwehrbasis in Rumänien fertiggestellt. Und im Jahr 2018 wurde schließlich – nach einem ersten Manöver in 2016 – die dauerhafte Stationierung der Iskander-Raketen in Kaliningrad bekannt. Seitdem sind dort Raketen stationiert, die sowohl mit konventionellen, als auch mit nuklearen Sprengköpfen ausrüstbar sind – und die mit einer Reichweite von 500 km auch Berlin erreichen können. Während diese Iskander hierzulande stark kritisiert werden, bleibt der Zusammenhang mit Aegis Ashore in Rumänien stets unerwähnt.
Die Kündigung des INF-Vertrags – Der wahre Grund
Im Herbst 2018 kündigte US-Präsident Donald Trump überraschend an, den INF-Vertrag über die Mittelstreckenraketen kündigen zu wollen – nachdem die Staats- und Regierungschefs der NATO noch drei Monate zuvor ihr großes Interesse an der Fortsetzung des INF-Vertrages betont hatten. Offiziell begründet wurde die Kündigung mit der Behauptung, Russland habe den Vertrag mit der Entwicklung des neuen Iskander-Typs 9M729 verletzt, der eine Reichweite von 1.500 Kilometern oder sogar mehr besitze. Russland bestritt das und eindeutige Beweise wurden von den USA nicht vorgelegt. Als Indiz diente im Wesentlichen nur eine russische Testkombination aus der Zeit vor 2014. Während sich Großbritannien sofort auf die Seite der USA schlug, versuchten Deutschland und Frankreich noch, die Kündigung abzuwenden. Nachdem sich abzeichnete, dass sie die USA nicht umstimmen konnten, drehten auch sie bei und übernahmen die Erzählung von der russischen Verletzung des INF-Vertrages. Angesichts der ohnehin schwelenden Spannungen mit US-Präsident Trump wollte niemand zusätzlichen Streit mit ihm und in der NATO riskieren.
Dabei war die Kündigung des INF-Vertrages selbst in den Trump-Administration nicht unumstritten. Das Außen- und das Verteidigungsministerium äußerten Bedenken, konnten sich aber nicht gegen Trumps damaligen Nationalen Sicherheitsberater John Bolton durchsetzen. Dieser, ein außenpolitischer Falke und langjähriger Gegner jedweder
Rüstungskontrollabkommen, war die treibende Kraft hinter der Kündigungsentscheidung. Und er hatte das entscheidende Argument: den Hinweis auf den Rivalen China, gegen den Trump bereits den Wirtschaftskrieg ausgerufen hatte. China war den USA zwar im atomaren Bereich weit unterlegen. Da es nicht zu den Unterzeichnern des INF-Vertrag gehörte, bestand sein nukleares Potential aber zum Großteil aus ballistischen Raketen im
Mittelstreckenbereich. Für die USA waren diese Systeme zwar ebenso wenig wie die Iskander-Raketen im europäischen Teil Russlands eine Bedrohung. Es ging aber darum, Chinas wachsende militärische Macht und Selbstbehauptung zu bekämpfen“, und deshalb – so das Carnegie Endowment for International Peace damals – wollten die USA auch „konventionelle bodengestützte Mittelstreckenraketen (GBIRs) gegen China einsetzen“ können – was unter dem INF-Vertrag nicht möglich gewesen wäre. In der Hauptsache hatte die amerikanische Kündigung des INF-Vertrages somit den Grund, Mittelstreckenraketen gegen China aufstellen zu können.
Das neue Konzept der „Multi Domain Task Force“
Aber nicht nur das. In den USA wurde damals bereits an dem neuen „Multi Domain Task Force“ – Konzept der US-Army gearbeitet. Es soll alle Dimensionen der Kriegführung – Land, Wasser, Luft, Cyber, Weltraum und Psychologie – in qualitativ neuer Weise und mit viel Künstlicher Intelligenz in einem integrierten Handlungsraum zusammenführen und damit die militärische Überlegenheit gegenüber dem Gegner sicher stellen. Das zentrale „Feuer“- System in diesem Konzept bilden Präzisions-, Überschall- und Abwehrraketen sowie Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 400 und 3.000 km – mithin Mittelstreckensysteme.
Gemäß dem neuen, von Obama ausgerufenen und von Trump intensivierten „Pivot to Asia“ wurde die erste Multi Domain Task Force im Indo-Pazifik aufgebaut. Schon 2019, beim Auslaufen des INF-Vertrages, gab es aber die Pläne, ein solches auch in Europa umzusetzen. „Obwohl die Multi-Domain Task Force in Europa erst am Anfang ihrer Entwicklung steht“ – so die Defense News im August 2019 – „wird erwartet, dass sie der US-Armee dabei helfen
wird, ihre Doktrin für mögliche Bodenkampagnen gegen den Beinahe-Konkurrenten Russland zu entwickeln.“
Wann genau die Entscheidung fiel, die europäische MDTF in Deutschland – und nur dort – zu errichten, ist öffentlich nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass ihr Aufbau schon im Frühjahr 2021 begann, als eine Spezialeinheit der US Army nach Wiesbaden verlegt wurde und weithin unbeachtet von der Öffentlichkeit ihre Arbeit aufnahm. Dass der MDTF-Einheit in Deutschland auch neue Mittelstreckenraketen folgen sollten, war allen Insidern schon damals klar. Eine offizielle Ankündigung gab es allerdings nicht – bis zum NATO-Gipfel im Sommer 2024, als Präsident Biden und Olaf Scholz eine Entscheidung bekannt gaben, die die amerikanische Regierung, zumindest im Grundsatz, schon vor Jahren getroffen hatte. Eine nähere Darstellung der Multi Domain Task Force und den Risiken, die mit ihr verbunden
sind, soll in einem weiteren Artikel erfolgen.
Fazit
Als Fazit ist hier zunächst festzuhalten: Die neuen US-Raketen werden mitnichten stationiert, weil Russland den INF-Vertrag mit seinen Iskander-Raketen verletzt hat. Es ist genau umgekehrt: Der INF-Vertrag wurde gekündigt, um die neuen US-Raketen im Rahmen der MDTF-Doktrin aufstellen zu können – im Indo-Pazifik, in Europa und an drei weiteren Standorten der Welt.
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Ausführliche Quellenangaben finden sich in drei Beiträgen, die auf X (ehemals Twitter) veröffentlicht wurden:
https://x.com/ArnoGottschalk/status/1822250342026809481 https://x.com/ArnoGottschalk/st
atus/1825470885844619461 https://x.com/ArnoGottschalk/status/1827056347961069969
Arno Gottschalk ist Ökonom und finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft (Landtag). Er befasst sich seit über 40 Jahren – „mal mehr, mal weniger, seit 2020 wieder mehr“ – mit der „Multi Domain“ Krieg & Frieden