Der ukrainische Ex-Präsident Selenskij hat bei seiner Reise in die USA entsprechend seiner ursprünglichen Profession eine kompakte Show abgeliefert, um die Nato, allen voran die USA, für seinen „Siegesplan“ zu begeistern und die Freigabe der Langstreckenbegrenzung für westliche Waffensysteme zu erzwingen, was einen direkten Eintritt der Nato in den Ukraine-Krieg bedeuten würde. Auf dem Parkett der Vereinten Nationen und vor dem UN-Sicherheitsrat war der ukrainische Sieg schon zum Greifen nahe, aber eben nur verbal. Mehr dazu aus GERMAN-FOREIGN-POLICY vom 27. September 2024:
Selenskyjs „Siegesplan“
BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Die auch von deutschen Politikern lautstark unterstützte Forderung nach einer Freigabe weitreichender westlicher Raketen für ukrainische Angriffe auf Ziele in Russland führt zu ersten Reaktionen aus Moskau. Russland passt seine Nuklearstrategie an die neue Lage an;
wie Präsident Wladimir Putin am Mittwoch erklärte, wird sein Land künftig einen Angriff eines Nicht-Kernwaffenstaats, falls er „mit Beteiligung oder Unterstützung eines Kernwaffenstaates“ ausgeführt wird, als „gemeinsamen Angriff“ beider Staaten auf Russland betrachten. Zudem zieht Moskau – im Gegenzug gegen eine etwaige Freigabe weitreichender westlicher Raketen für die Ukraine – Berichten zufolge die Lieferung von Raketen an die jemenitischen Huthi-Milizen in Betracht. Die Forderung, mit weitreichenden Raketen Ziele in Russland angreifen zu dürfen, ist Teil des angeblichen „Siegesplans“, für den Präsident Wolodymyr Selenskyj am gestrigen Donnerstag in Gesprächen im Weißen Haus warb – freilich erfolglos. Hatte es bereits zuvor in Washington geheißen, der „Siegesplan“ sei nur eine neue Verpackung für alte Forderungen, so musste Selenskyj ohne eine Freigabe weitreichender westlicher Waffen abreisen.
„Siegesplan“ und Niederlagen
Der angebliche „Siegesplan“, den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am gestrigen Donnerstag der Biden-Administration präsentierte, war in Washington schon vorab recht abfällig beurteilt worden. Er sei nach allem, was man wisse, kaum mehr als „eine neu verpackte Forderung nach mehr Waffen und einer Aufhebung der Beschränkungen für weitreichende Raketen“, hieß es etwa im Wall Street Journal unter Berufung auf diverse US-Regierungsmitarbeiter.[1] Selenskyj habe „einen maximalistischen Vorschlag“ vorgelegt – in der Hoffnung, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in Europa würden ihm alle Wünsche erfüllen. Zwar habe es in Kiew stets geheißen, der „Siegesplan“ sehe nicht nur die weitere Aufrüstung der Ukraine, sondern auch politische und ökonomische Maßnahmen vor; diese seien aber kaum ausgearbeitet gewesen. Zudem sporne die Lage in der Ukraine selbst nicht eben zu riskanten Aufrüstungsschritten an. So steht etwa die lange Zeit umkämpfte Kleinstadt Wuhledar vor dem Fall. Auch das Logistikdrehkreuz Pokrowsk scheint für Kiew kaum noch zu halten zu sein. Als eine der Ursachen nennen Experten die Schwächung der ukrainischen Defensive durch die Abzweigung von Truppen für die Offensive in Kursk: Sei die ukrainische Verteidigung schon vorher eingeknickt, so knicke sie nun „noch schneller ein“.[2]
Fettnäpfe
Es kommt hinzu, dass Selenskyj und seine Regierung es sich inzwischen mit wachsenden Teilen des Washingtoner Establishments zu verscherzen beginnen. Selenskyj hatte in einem am Sonntag publizierten Interview geäußert, der US-Vizepräsidentschaftskandidat JD Vance, der jegliche Hilfe für die Ukraine ablehnt, sei „zu radikal“. Außerdem hatte er Vance belehrt, er solle sich „in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ einlesen.[3] Am Montag hatte Selenskyj sich in einem Flugzeug der US-Luftwaffe zu einem offiziellen Auftritt an der Seite von Gouverneur Josh Shapiro (Demokraten) in einem Munitionswerk im Bundesstaat Pennsylvania fliegen lassen, was führende Republikaner jetzt als eine offene Parteinahme im US-Wahlkampf heftig kritisieren. Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson (Republikaner), forderte Selenskyj am Mittwoch auf, die ukrainische Botschafterin, die die Stippvisite organisiert hatte, zu entlassen.[4] Ebenfalls am Mittwoch unterstellte Selenskyj in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung allen Staaten, die seiner „Friedensformel“ – faktisch die Forderung nach einer russischen Kapitulation – nicht zustimmten, sie wollten ihrerseits „tun, was Putin tut“, also einen anderen Staat angreifen. In diesem Kontext nannte Selenskyj explizit China und Brasilien.[5] Pluspunkte in der Staatenwelt sammelt man damit nicht.
Weitreichende Waffen
Die in Selenskys „Siegesplan“ enthaltene Forderung, Ziele in Russland mit weitreichenden westlichen Raketen angreifen zu dürfen, wurde auch von deutschen Politikern unterstützt. So hatte etwa die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), erklärt, man müsse die Ukraine dringend „in die Lage versetzen, auch militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu zerstören“. Das bedeute freilich zugleich, „dass Deutschland endlich den Taurus liefern muss“.[6] Der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen), hatte verlangt, die Ukraine müsse „in die Lage versetzt werden“, militärische Ziele „auf russischem Territorium mit weitreichenden Waffen zu zerstören“.[7] Die Forderung hatten unter anderen auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), sowie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marcus Faber (FDP), vertreten. „Die Genehmigung, russische Militärflughäfen mit weitreichenden Waffen … ins Ziel zu nehmen“, sei „überfällig“, hatte Faber geäußert.[8] Daraus wird nun allerdings wohl nichts: Selenskyj musste ohne Freigabe weitreichender westlicher Raketen das Weiße Haus verlassen; dort wurde bestätigt, die US-Regierung ändere ihre diesbezügliche Position nicht.[9]
Russlands Nukleardoktrin
Ganz unabhängig davon hat die Forderung, den Einsatz weitreichender Waffen zu erlauben, schon jetzt eine weitere Zuspitzung der globalen Spannungen ausgelöst. So hat Russland sich veranlasst gesehen, mit einer Anpassung der Bestimmungen zum Einsatz seiner Atomwaffen zu reagieren. Die russische Nukleardoktrin sieht einen solchen Einsatz grundsätzlich entweder für den Fall vor, dass Russland selbst mit Atomwaffen angegriffen wird – oder für den Fall, dass ein konventioneller Angriff den russischen Staat in seinem souveränen Bestand gefährdet. Wie der russische Präsident Wladimir Putin am Mittwoch abend in einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats erklärte, wird Moskau in Zukunft „eine Aggression gegen Russland“, die „durch einen Nicht-Kernwaffenstaat“ geführt werde, „aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Kernwaffenstaates“, als einen „gemeinsamen Angriff“ beider „auf die Russische Föderation“ betrachten.[10] Dies bezieht sich unmittelbar auf die aktuelle Debatte über eine Freigabe weitreichender westlicher Waffen für Angriffe auf russische Ziele; da solche Angriffe in der Praxis nur mit Beteiligung westlicher Soldaten durchgeführt werden können, kommt ihr Einsatz ohnehin einem Kriegseintritt des entsprechenden Staats gleich.
Raketen für die Huthi
Zudem zieht Russland Berichten zufolge in Betracht, auf eine Freigabe weitreichender westlicher Waffen für Angriffe auf Ziele in Russland mit der Lieferung russischer Raketen an Gegner des Westens zu reagieren – und zwar an die jemenitischen Huthi-Milizen. Wie es heißt, hätten russische Regierungsvertreter darüber schon mit Vertretern der Huthi verhandelt – unter Vermittlung Irans.[11] Eine Entscheidung ist den Berichten zufolge allerdings noch nicht gefallen; sie dürfte davon abhängen, ob die westlichen Staaten Kiew tatsächlich Angriffe mit westlichen Raketen auf Ziele weit hinter der Front gestatten. Experten zufolge könnte eine Lieferung russischer P-800-Raketen an die Huthi-Milizen gravierende Folgen für die politische Lage im Nahen und Mittleren Osten haben. Die P-800 seien „ein System mit erheblich größeren Fähigkeiten“ als die Raketen und die Drohnen, die die Huthi bislang einsetzten, erklärt Fabian Hinz vom International Institute for Strategic Studies (IISS).[12] Mit ihnen ließen sich vermutlich auch westliche Kriegsschiffe attackieren, die im Roten Meer kreuzten. Die Folgen liegen auf der Hand.
[1] Alexander Ward, Lara Seligman: U.S. ‘Unimpressed’ With Ukraine’s Victory Plan Ahead of Biden-Zelensky Meeting. wsj.com 25.09.2024. S. auch Selenskys „Siegesplan”.
[2] David Axe: Ukraine’s Fortress In Vuhledar Held For 31 Months. Now It’s About To Fall. forbes.com 25.09.2024.
[3] Tara Suter: Zelensky calls Vance ’too radical,’ suggests he study WWII. thehill.com 23.09.2024.
[4] Lisa Mascaro: Speaker Johnson demands Zelenskyy remove Ukraine’s ambassador to US after Pennsylvania visit. apnews.com 26.09.2024.
[5] Statement by H.E. Mr. Volodymyr Zelenskyy, President of Ukraine, at UN GA General Debate. New York, 25 September 2024.
[6], [7] Die Taurus-Debatte ist zurück. spiegel.de 13.09.2024. S. auch Die Pokerspieler.
[8] Daniel Mützel, Johannes Bebermeier: „Die Genehmigung ist überfällig“. t-online.de 12.09.2024.
[9] Marc Bennetts: Zelensky leaves Washington without deal to fire missiles at Russia. thetimes.com 26.09.2024.
[10] Meeting of the Security Council standing conference on nuclear deterrence. en.kremlin.ru 15.09.2024.
[11] Friederike Böge, Friedrich Schmidt: Teherans doppeltes Spiel. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.09.2024.
[12] John Irish, Parisa Hafezi, Jonathan Landay: Iran brokering talks to send advanced Russian missiles to Yemen’s Houthis, sources say. reuters.com 24.09.2024.