…Israels Vorgehen im Gazastreifen kritisieren, sind sie Nazi-verdächtig
von Arn Strohmeyer
Die deutsche Erinnerungs- und die deutsche Israel- und Nahostpolitik hängen eng zusammen. Das versteht sich nach den Nazi-Verbrechen von selbst. Ein äußerst kurioses Stück deutscher Vergangenheitsbewältigung hat sich jetzt der CDU-Politiker Jens Spahn geleistet. Er sprach damit sicher im Namen seiner gesamten Partei. Was war geschehen?
Die Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz (SPD) hatte Mitte Oktober auf Instagram einen Beitrag der „Jewish Voice for Peace“ (die deutsche Sektion ist die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“) geteilt, in dem der brutale israelische Angriff auf ein Krankenhaus im Gazastreifen gezeigt wird – nach israelischer Darstellung natürlich eine Hamas-Zentrale.
Die Affäre, die eigentlich gar keine ist, hatte Spahn mit der Feststellung ausgelöst: „Es ist eine Schande, dass zum ersten Mal seit Hermann Göring möglicherweise wir im Deutschen Bundestag wieder tagen, diskutieren oder da sitzt jemand und präsidiert gegen Israel und gegen Juden. Das ist inakzeptabel, und deswegen muss sie zurücktreten.“ Die Nazi-Größe Göring war von 1932 bis 1945 Reichstagspräsident.
Man muss Spahn und seinem Politik- und Geschichtsverständnis etwas auf die Sprünge helfen. Die Kritik an dem Angriff auf das Hospital kam nicht von Geistesverwandten Hermann Görings – etwa Neonazis oder dergleichen, sondern von einer jüdischen Organisation – eben der „Jewish Voice for Peace“, die sich für die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte sowie für einen gerechten Frieden zwischen Israel und den Palästinensern einsetzt. Spahn setzt also die Vertreter dieser Organisation mit Nazis á la Hermann Göring gleich. Er unterscheidet also ganz offensichtlich zwischen guten und bösen Juden: Die Guten sind die in Israel zur Zeit herrschenden supernationalistischen und sich zum Teil offen zum Faschismus bekennenden, die auch für das Morden im Gazastreifen verantwortlich sind. Die Bösen sind die universalistisch gesinnten Juden, die Völkerrecht und Menschenrechte achten und Israels genozidales Vorgehen im Gazastreifen scharf kritisieren. (Dass in einer solchen Unterscheidung zwischen den „richtigen“ und „falschen“ Juden auch ein Prise Antisemitismus steckt, darf nicht unerwähnt bleiben.)
Dass Spahn eine in humaner Absicht von jüdischer Seite kommende Kritik und die Zustimmung zu ihr von Frau Özoguz mit einer Nazi-Äußerung im Stile Hermann Görings gleichsetzt, ist allein schon eine Ungeheuerlichkeit, die einen Aufschrei in den deutschen Medien hätte hervorrufen müssen. Aber nichts dergleichen. Der Skandal wird nicht bei ihm gesehen, sondern bei Frau Özoguz, die sich denn auch – vermutlich kräftig unter Druck gesetzt – gleich geflissentlich für ihr like entschuldigte, anstatt es offensiv zu verteidigen.
Jens Spahn scheint gar nicht zu wissen oder er will es nicht wissen, dass es auch unter Juden wie in anderen Volksgruppen erhebliche weltanschauliche und politische Differenzen gibt, dass zum Beispiel die ultraorthodoxen Juden Antizionisten sind und den Staat Israel sogar total ablehnen. Juden sind für ihn offenbar nur stramme Zionisten, die zur Zeit mit der „moralischsten Armee der Welt“ im Gazastreifen einen „Selbstverteidigungskrieg“ führen. Dass dieser Krieg inzwischen genozidale Züge trägt und zu einer neuen Nakba geworden ist, dürfen Leute wie Spahn offenbar nicht einmal denken. Auch die Zerstörung eines Krankenhauses ist so gesehen auch ein Akt der „Selbstverteidigung“ und nicht eine schlimme Verletzung des Völkerrechts.
Spahn kann seinen skandalösen Vergleich mit Hermann Göring und der Kritik der „Jewish Voice“ an Israels Vorgehen nur anstellen, weil er wie die ganze deutsche Mainstream-Politik nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel unterscheiden kann und darf – da ist die deutsche Staatsräson davor! Ihm sei ins Stammbuch geschrieben: Judentum ist eine kulturelle, sich aus der Religion herleitende Weltanschauung (es gibt auch atheistische Juden!); Zionismus ist die nationalistische Staatsideologie Israels; und Israel ist ein Staat, in dem auch 20 Prozent der Bewohner Palästinenser leben. Nimmt man die besetzten Gebiete hinzu, die Israel de facto längst annektiert hat, ist das Verhältnis zwischen Juden und Palästinensern sogar etwa 50:50. Es gilt also: Nicht alle Juden sind Zionisten, und Zionisten müssen auch nicht unbedingt Juden sein.
Was steht der so loyal zu Israel stehenden deutschen Politik bevor – mit Leuten wie Spahn vorneweg – , wenn der IGH in seinem zu erwartendem Urteil Israel wirklich Völkermord im Gazastreifen vorwirft. Nach Spahns Logik wäre das reiner Antisemitismus und ein Vergleich des IGH mit Freislers Volksgerichtshof läge dann nahe. Die deutsche Erinnerungs- und Nahostpolitik bewegt sich an einem gefährlichen Abgrund entlang. Die Entscheider haben das nur noch nicht begriffen.
28.10.2024