„Nie wieder für alle“

Rede auf der Friedensdemonstration am 16.11.2024 auf dem Bremer Marktplatz

Ivesa Lübben, stellv. Präsidentin der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft e.V.

 

Liebe Friedensfreunde und – freundinnen, liebe Palästinenser- und Palästinenserinnen,

Ihr seid hier hergekommen, um gemeinsam das Entsetzen, die Wut und die Trauer über das unendliche Leid in Gaza Ausdruck zu verleihen.

„Nie wieder…..“ das war das Versprechen der Weltgemeinschaft nach den Gräueln des Holocausts und des 2. Weltkriegs. „Nie wieder für alle“ war die Lebensdivise von Raphael Lemkin dem Vater der Genozidkonvention von 1951 – selber Verfolgter des Nazi-Regimes.

Der aktuelle Krieg begann am 7. Oktober mit dem Überfall der Hamas auf israelische Dörfer, der Ermordung Geiselnahme israelischer Zivilisten begann. Wir haben als DPG die Aktion der Hamas auf das Schärfste verurteilt. Zugleich müssen wir aber konstatieren, dass das was in Gaza geschieht, nichts, aber auch gar nichts mehr mit Selbstverteidigung Israels zu tun hat, sondern Teil einer Strategie der ethnischen Säuberung des Gazastreifens ist.

Vor neun Monaten hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in den Haag ein Verfahren gegen Israel wegen Völkermordes eröffnet. Schon damals hatten israelische Bombardements die Universitäten des Gazastreifens, die meisten Krankenhäuser, Schulen, Friedhöfe, Verwaltungsgebäude in Gaza zerstört. Ärzte mussten Verletzte ohne Anästhesie operieren, weil Israel eine Blockade verhängt hatte und kaum noch Lebensmittel und Medikamente nach Gaza kamen. Eine schreckliche Dystopie, die Wirklichkeit war. Der IGH wies Israel an, genozidale Handlungen zu unterlassen und Hilfsgüter in ausreichender Menge in das Land zu lassen. Man dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Aber das war eine Täuschung. Israel ignorierte alle Anweisungen des Gerichts.

Der Krieg wütet weiter. Heute ist der 406. Tag. Und die Horrormeldungen überschlagen sich als wollten sie sich gegenseitig überbieten. Seit Monaten werden die über 2 Mio. Menschen im Gazastreifen – der nicht größer ist als das Stadtgebiet von Bremen – nur mit den nötigsten Habseligkeiten, die sie aus ihren Wohnungen retten konnten, von einem Planquadrat ins nächste getrieben, während die israelische Tötungsmaschine einen Stadtteil nach dem nächsten in ein Trümmerfeld verwandelt. Auch in Gebieten, die die israelische Armee als vermeintliche Schutzzone ausgewiesen hat, fallen ohne Vorwarnungen Bomben auf provisorische Zelte und Behausungen. Menschen verbrennen bei lebendigem Leibe.

44.000 Menschenleben hat der Krieg gekostet, 44.000 Ermordete. Unter ihnen 17.000 Kinder: neugeborene Babys, Kleinkinder, Schüler*innen, die davon träumten einmal Ärzt*in, IT-Expert*in oder Lehrer*in zu werden; Kinder, die eifrig Fremdsprachen lernten, weil sie sich wünschten ein einziges Mal das Gefängnis namens Gaza zu verlassen. Sie träumten davon, etwas von der Welt zu sehen, die sich ihnen ansonsten nur durch das Internet erschloss.

17.000 Kinder: Das ist die Zahl derjenigen, die wir namentlich kennen. Aber es gibt Abertausende, die irgendwo unter Trümmern liegen oder in Massengräbern verscharrt wurden. Es gibt Kinder, deren Namen wir nicht kennen, weil aus ihrer Familie niemand überlebt hat und die ihre Sprache verloren haben. Kinder, die für ihr Leben traumatisiert sind. Kinder, denen Beine und Arme amputiert wurden und die nie ein normales Leben führen können.

 Wir sind auch wütend auf unsere Politiker. Noch immer versuchen sie, das israelische Vorgehen mit einem angeblichen Recht auf Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Die Opfer sind in ihren Augen bedauernswerter Kollateralschaden, der entstanden ist, weil sich die Hamas angeblich hinter Zivilisten versteckt. Kritische Stimmen, die dieses Narrativ infrage stellen, die Israel Völkermord vorwerfen, sollen durch die neue Antisemitismus-Resolution mundtot gemacht werden. Denn offene Debatten darüber, dass Deutschland mit seinen Waffenlieferungen an Israel Beihilfe zum Völkermord leistet, würden Schatten auf das Selbstbildnis einer moralischen Außenpolitik werfen.

Aber wie blind, wie emotional verhärtet oder politisch verblendet muss man sein, um vor den verstörenden Berichten von amerikanischen und britischen Ärzten, die in Gaza als Freiwillige gearbeitet haben, die Augen zu verschließen – wenn man schon bei jedem Bericht aus Gaza mit der Anmerkung „nach Informationen des Hamas-kontrollierten Gesundheitsministeriums“ Zweifel säht.

Amerikanische Kinderärzte berichteten kürzlich der New York Times, dass sie immer wieder Kinder mit Brust- und Kopfschüssen operiert hätten. Viele starben. Kopf- und Brustschüsse? Kopf- und Brustschüsse sind ein verstörendes Indiz dafür, dass IDF-Soldaten mit einer Tötungsabsicht gezielt auf Kinder geschossen haben.

Der britische Chirurg Nizam Mamode berichtete dem entwicklungspolitischen Ausschuss des britischen Parlaments unter Tränen, wie ferngesteuerte israelische Drohnen auf Kinder geschossen hätten, die verletzt am Boden lagen. „Erst wurde eine Bombe auf ein Zeltlager abgeworfen und dann kamen die Drohnen und schossen auf die verletzten Zivilisten – auf Kinder und das Tag für Tag“ – so Mamode. Braucht es noch mehr Beweise dafür, dass Israel in Gaza einen Genozid verübt? Wie lange wollen unsere Politiker die Augen vor diesen Verbrechen verschließen?

Dabei haben israelische Politiker nie einen Hehl aus ihren Intentionen gemacht. Netanjahu hat schon zu Beginn des Krieges angekündigt, er würde Gaza in Schutt und Asche legen. Der inzwischen abgesetzte Verteidigungsminister Gallant erklärte: „Wir werden alles eliminieren Wenn wir es nicht an einem Tag schaffen, wird es eine Woche dauern. Es wird Wochen oder sogar Monate dauern, aber wir werden alle Orte erreichen.“ Kulturminister Minister Amirchai Eliyahu riet gar, eine Atombombe über Gaza abzuwerfen. Das Ministerium für Nationale Sicherheit präsentierte einen Plan für die Umsiedlung der Palästinenser in den Sinai – „ethnische Säuberung“ nennt man das.

US-Präsident Biden hat Netanjahu wiederholt gefragt, was sein eigentliches Kriegsziel in Gaza sei. Die offizielle Antwort ist Netanjahu ihm bis heute schuldig geblieben. Aber wenn Biden aufmerksam die Geschichte verfolgen würde, hätte er die Antwort.

Vor 15 Jahren – kurz nach Ende des Gaza-Krieges 2008/2009 erinnerte sich der Korrespondent des Guardian, Max Hastings, an eine Diskussion mit einem jungen Israeli, die 30 Jahre zurücklag.

Der Israeli überraschte ihn mit der Aussage: „Im nächsten Krieg müssen wir dafür sorgen, die Palästinenser für immer loszuwerden.“ Dieser junge Mann war niemand anderes als Benjamin Netanjahu. Damals gab es noch keine Hamas.

Einer der Architekten des israelischen Rückzugs aus Gaza, Arnon Soffer, bezeichnete 2004 in einem Interview mit der Jerusalem Post Gaza als eine demographische Zeitbombe. Israel brauche Kriege gegen Gaza, um so viel Palästinenser wie möglich zu töten.

Es geht bei dem Krieg nicht um die Befreiung der Geiseln. Im Gegenteil – auch die Geiseln und ihre Familien sind Opfer von Netanjahus Kriegspolitik. Die Geiseln hätten längst frei sein können. Im Mai lag ein von den USA vermitteltes Abkommen über einen Waffenstillstand und den Austausch der israelischen Geiseln gegen palästinensische politische Gefangene vor. Auch die libanesische Hezballah und die jemenitischen Houthis haben erklärt, dass sie bei der Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens ihre Angriffe auf Israel einstellen würden. Es war Netanjahu, der die Unterzeichnung des Abkommens immer wieder blockiert hat. Solange die Geiseln in Hand der Hamas sind, hat Netanjahu einen Vorwand, den Krieg weiter zu führen.

Was für ein Zynismus. Und unsere Politik? Bei der Bundestagsdebatte zum Jahrestag des 7. Oktober hat Bundeskanzler Scholz unter dem Jubel der Koalitionsparteien, der CDU und der AfD versprochen, die zeitweise ausgesetzten Waffenlieferungen an Israel wieder aufzunehmen. Shame on you. Nur massiver Druck kann Netanjahu von seinen Plänen abhalten. Wir fordern deswegen ein internationales Waffenembargo gegen Israel.

Inzwischen hat die israelische Regierung ein neues Kapitel der ethnischen Säuberung in Gaza eingeleitet. Anfang Oktober erging der Befehl an alle verbliebenen Bewohner des nördlichen Gazastreifens, das Gebiet zu verlassen, das zur militärischen Sperrzone erklärt wurde. Humanitären Hilfslieferungen wird der Zugang verweigert. Verbliebene Gebäudestrukturen werden eine nach der anderen gesprengt. Aber wohin sollen die Menschen ziehen?

Es gäbe keine Zivilisten mehr, erklärte die Führung der israelischen Armee, nur noch Terroristen. Damit sind alle der 100.000 Menschen, die in Nordgaza verbliebenen sind, zum Abschuss freigegeben.

Die Pläne Netanjahus gehen weiter. Der Krieg droht immer mehr zu einem regionalen Krieg mit globalen Folgen zu werden. Er wolle die ganze Region neu gestalten, erklärte Netanjahu. Im Klartext heißt das zweierlei: Erstens die Errichtung eines Groß-Israels „from the river to the sea“ und zweitens die Festschreibung israelischer Hegemonie über seine arabischen Nachbarn.

2022 präsentierte Netanjahu vor der UN-Vollversammlung eine Landkarte von Israel, von der die besetzten Gebiete getilgt sind. Schon im Parteiprogramm der Likud-Partei ist die Rede davon, dass Judäa und Samaria – die zionistischen Bezeichnungen für die Westbank – integraler Teil Israels seien. Und im Sommer erklärte die Knesset mit wenigen Gegenstimmen, dass Israel niemals einen palästinensischen Staat akzeptieren werde. Schon im Nationalstaatsgesetz von 2018, das in Israel Verfassungsrang hat, wurde die Besiedlung der Westbank zur nationalen Staatsaufgabe erklärt.

Die Versuche einer ethnischen Säuberung haben im Schatten des Krieges auch auf die von Israel besetzte Westbank übergegriffen. Nächtliche Razzien der IDF, willkürliche Verhaftungen, Pogrome radikaler Siedler in palästinensischen Dörfern, bei denen Häuser, Autos und Ernten in Flammen aufgehen, sind inzwischen Alltag. Bei Einsätzen der Armee in Tulkarem und Jenin wurden Straßen, Elektrizität-, Wasser- und Abwasserleitungen zerstört. Der Ring der Siedlungen um palästinensische Städte wird immer enger. 783 Palästineser*innen wurden seit dem 7. Oktober von Siedlern oder IDF-Soldaten erschossen – eine stetige Erinnerung an die Bewohner der Westbank, dass sich das Szenario von Gaza auch in der Westbank wiederholen könnte.

Bis heute ist Israel das einzige Mitgliedsland der Uno, das seine Grenzen nicht definiert hat. Das Nationalstaatsgesetz definiert den Staat Israel als Staat in Eretz Israel (dem Land Israel) – einem schwammigen biblischem Begriff, der mal so, mal so interpretiert werden kann.

Mit dem Nationalstaatsgesetz wird der israelische Anspruch auf die Palästinensischen Besetzten Gebiete festgeschrieben. Radikale Siedler gehen jedoch weiter:

So erhob kürzlich der rechtsradikale israelische Finanzminister Smotrich in einer Sendung des deutsch-französischen Fernsehkanals Arte Gebietsansprüche bis nach Damaskus. Er zeigte vor laufender Fernsehkamera die Karte seiner Vision eines Eretz Israels. Diese umfasst den Süden Libanons und Syriens, den ägyptischen Sinai und große Teile Jordaniens bis nach Saudi-Arabien. Nur die Meinung einer Minderheit? Zur Zeit der Unterzeichnung des Oslo-Abkommen (in den 1990ern) hielt man die radikalen Siedler in der Westbank auch für ein radikales Randphänomen. Heute haben ihre Ansprüche auf die Westbank die politische Mitte in Israel erreicht. Einen Präzedenzfall für den Expansionsdrang über die Grenzen des Mandatsgebiets Palästina hinaus gibt es bereits. 1981 wurden die von Israel 1967 besetzten syrischen Golanhöhen völkerrechtswidrig annektiert. Die meisten Bewohner waren 1967 vertrieben worden.

Schon jetzt machen radikale Siedlergruppen für zukünftige Villen in Gaza und im Südlibanon in Israel und den USA Werbung. Auch im Libanon lässt Netanjahu die Welt über seine Kriegsziele im Unklaren. Offiziell geht es bei dem Krieg, bei dem in einem Monat über 3.000 Libanesen ermordet und 1 Mio. zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht wurden, um die Zerstörung des Waffenarsenals der Hizballah. Aber mit welcher Logik werden dann sunnitische Siedlungsgebiete im Norden, das drusiche Schufgebirge und christliche Dörfer bombardiert, in denen es keine Hizballah-Stellungen gibt? Was sind die Ziele der Angriffe auf Syrien, auf den Irak, auf den Iran? Offene Fragen.

Israel könnte Frieden haben. Die Arabische Liga hat in den letzten Monaten mehrfach ihr Angebot eines umfassenden Friedens zwischen den arabischen Ländern und Israel von 2002 wiederholt. Die einzige Bedingung: Der Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 und die Einlösung des Rechts auf Rückkehr oder Entschädigung der palästinensischen Geflüchteten auf der Basis der UN-Resolution 194.

Aber genau das will die israelische Regierung verhindern. Netanjahu droht die ganze Region in ein Inferno zu stoßen. Internationales Recht, UN-Beschlüsse, Anweisungen des IGH tritt er mit Füßen. Der Krieg wird immer mehr zu einer Gefahr für den Weltfrieden, zumal Israel im Besitz von Atomwaffen ist – ohne (anders als der Iran) dem Atomwaffenvertrag beigetreten zu sein.

Die Bundesregierung verschließt die Augen vor dieser Gefahr. Im Gegenteil: Sie versucht Stimmen, die auf die Gefahr der Expansionsbestrebungen der zionistischen Rechtskräfte hinweisen, als antisemitisch zu kriminalisieren.

Anders der europäische Außenbeauftragte Borell. Er hat den Abbruch des Dialogs der EU mit Israel gefordert. Vor fünf Tagen haben die Arabische Liga, die Organisation für islamische Kooperation und die Afrikanische Union zu einem internationalen Waffenembargo gegen Israel aufgerufen.

Nur massiver internationaler Druck wird Israel stoppen können. Wir fordern die Bundesregierung deswegen auf, sich diesen Initiativen anzuschließen.

    • Wir fordern, dass die Bundesregierung Palästina als Staat anerkennt, so wie von der Mehrheit der UN-Mitglieder gefordert.
    • Wir fordern ein internationales Waffenembargo gegen Israel.
    • Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für eine Atomwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten einzusetzen, die auch die israelischen Atomwaffen adressiert.

Und wir fordern im Inland ein Ende der Repression gegen diejenigen, die gegen den genozidalen Krieg auf die Straße gehen. Die Kritik an der israelischen Expansionspolitik hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Im Gegenteil ist die Politik von Netanjahu, Ben Gvir, Smotrich und die Vereinnahmung von Juden für die israelische Kriegspolitik die größte Gefahr für Juden in Deutschland und im Nahen Osten.