Französische Atomwaffentests in Algerien – die 60er sind noch lange nicht vorbei

Angeregt durch die Rede von Angelika Claußen beim traditionellen internationalen Hiroshimatag hat sich Yasmina Wöbbekind vom Bremer Friedensforum um Informationen über die französischen Atomwaffentest in Algerien, der Heimat ihres Vaters, bemüht und über http://www.nuclear-risks.org/de/ zwei lesenswerte Berichte gefunden, die Einblick in das verbrecherische Ausmaß dieser Versuche geben.

1. Französische Atomwaffentests in Reggane, Algerien

In den Jahren 1960 und 1961 führte das französische Militär in der Nähe von Reggane vier oberirdische Atomwaffentests durch. Die Folge war eine weiträumige Kontamination der Sahara mit Plutonium. Soldaten, Arbeiter und lokale Tuareg Stämme waren dem radioaktiven Fallout ausgesetzt und leiden seitdem unter gesundheitlichen Langzeitfolgen wie Krebserkrankungen, Unfruchtbarkeit und genetischen Mutationen.

Hintergrund
1945 gründete Frankreich die Atomenergiebehörde CEA, zuständig sowohl für die zivile als auch für die militärische Nutzung der Atomtechnologie. In den 1950er Jahren begann man mit dem Abbau von Uran und der Umwandlung in waffenfähiges Plutonium. Nach nur wenigen Jahren war Frankreich im Besitz von Atomwaffen, die in der französischen Kolonie Algerien getestet werden sollten. Der erste französische Atomwaffentest mit einer Sprengkraft von 70 Kilotonnen TNT-Äquivalent wurde am 13. Februar 1960 unter dem Code „Gerboise Bleue“ („Blaue Wüstenspringmaus“) mitten in der Sahara durchgeführt, etwa 50 km südöstlich der Reggane Oase. Drei weitere oberirdische Atomwaffentests („Gerboise Rouge“, „Gerboise Verte“ und „Gerboise Blanche“) wurden im folgenden Jahr auf dem Testareal von Reggane durchgeführt, bevor sich die französische Regierung aufgrund öffentlicher Proteste genötigt sah, ihre Atomwaffen zukünftig nur noch unterirdisch in den algerischen Bergen bei In Ekker zu testen.

2010 deckte die Zeitung „Le Parisien“ auf, dass im April 1961 vorsätzlich 300 Soldaten in das kontaminierte Gebiet der „Gerboise Verte“-Detonation geschickt wurden, um „die physiologischen und psychologischen Auswirkungen von Atomwaffen auf Menschen“ zu untersuchen und „Informationen für die körperliche und geistige Vorbereitung moderner Soldaten“ zu sammeln. 1967, fünf Jahre nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich, erhielt Algerien die volle Kontrolle über das massiv verstrahlte Testgebiet von Reggane zurück.

Folgen für Umwelt und Gesundheit
10.000 Soldaten, die Arbeiter des Atomwaffentestgeländes und lokale Tuareg-Stämme waren der Strahlung der Atomwaffentests direkt ausgesetzt, unzählige weitere dem radioaktiven Niederschlag, der vom Wind verweht wurde – bis in die 3.200 km entfernte sudanesische Hauptstadt Khartoum wurde erhöhte Radioaktivität gemessen. Ein Bericht des französischen Senats stellte fest, dass französische Soldaten im Testgebiet Strahlendosen zwischen 42 und 100 mSv ausgesetzt waren – dem 20 bis 50-fachen der üblichen Jahresdosis an Hintergrundstrahlung (ca. 2,4 Millisievert/Jahr) bzw. dem Äquivalent von etwa 2.000 bis 5.000 Röntgenuntersuchungen (0,02 mSv pro Untersuchung). Doch diese Schätzungen berücksichtigen noch nicht den Aspekt der inneren Bestrahlung. Vor allem bei den Menschen, die weit entfernt von der eigentlichen Explosion lebten und hauptsächlich vom radioaktiven Niederschlag betroffen waren, spielte das Einatmen  von radioaktiven Staubpartikeln und die Aufnahme kontaminierter Nahrung und Wasser eine bedeutende Rolle in der Entstehung von Krebserkrankungen. Auch 45 Jahre nach Ende der Atomwaffentests stellte die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) im gesamten Areal rund um Reggane weiterhin hohe Radioaktivität fest. Die Organisation warnt in ihrem Untersuchungsbericht vor dem Einatmen von radioaktiv verseuchtem Staub. Außerdem wird die unzureichende Sicherung des Testgeländes kritisiert, die dazu geführt hat, dass mittlerweile große Mengen radioaktiv verseuchtes Metall entwendet und über den Schwarzmarkt verkauft wurden.

Es gibt bis heute keine aussagekräftigen Studien über die gesundheitlichen Folgen der Atomwaffentests für Arbeiter, Soldaten und lokale Tuareg – lediglich immer wieder die Feststellung erhöhter Krebsraten und Fehlbildungen bei Neugeborenen. Die französische Veteranenvereinigung der Atomwaffentestopfer, Aven, führte 2008 eine Befragung von 1.000 Veteranen durch. 35 % von ihnen waren an mindestens einer Krebserkrankung erkrankt und jeder Fünfte gab an, als unfruchtbar diagnostiziert worden zu sein. Die Veteranen leiden überproportional häufig an einer großen Bandbreite von Erkrankungen, von Leukämie bis zu kardiovaskulären Erkrankungen, und auch ihre Kinder und Enkel haben ungewöhnlich häufig schwere gesundheitliche Probleme, die auf Mutationen und genetische Schäden zurückgeführt werden können.

Ausblick
Im März 2009 erklärte sich die französische Regierung nach jahrzehntelanger Verweigerung bereit, die Opfer der Atomwaffentests zu entschädigen. Betroffenenverbände kritisieren jedoch, dass die Auswahlkriterien für die Entschädigungszahlungen zu streng und der Zugang für viele der Opfer zu kompliziert sei. Dies gilt insbesondere für die Tuareg der algerischen Sahara – den Hibakusha der französischen Atomwaffentests. Umfassende und unabhängige Untersuchungen sind dringend erforderlich, um die gesundheitlichen Auswirkungen der Atomwaffentests zu untersuchen. Die Akte Reggane ist noch lange nicht geschlossen.

Weiterführende Lektüre:
Der französische Film „Vent de sable“ zeigt Interviews mit Experten und Tuareg, die von den Atomwaffentests betroffen waren: www.youtube.com/watch?v=HKm6MXasgVo

  • Quellen
    „13 February 1960 – The First French Nuclear Test.“ Webseite der Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen. www.ctbto.org/specials/testing-times/13-february-1960-the-first-french-nuclear-test
  • „Quand les appelés du contingent servaient de cobayes.“ Le Parisien, 16.02.2010. www.leparisien.fr/faits-divers/quand-les-appeles-du-contingent-servaient-de-cobayes-16-02-2010-817293.php
  • „Les essais nucléaires Français“. Webseite des Französischen Senats. www.senat.fr/rap/r01-207/r01-2073.html
  • „Radiological Conditions at the Former French Nuclear Test Sites in Algeria“. Internationale Atomenergie Organisation (IAEO). Wien, 2005. www-pub.iaea.org/MTCD/publications/PDF/Pub1215_web_new.pdf
  • Valatx JL. „Conséquences sur la santé des essais nucléaires français – Résultats sur 1800 questionnaires“. Webseite der „Association des vétérans des essais nucléaires“ (AVEN). www.aven.org/aven-acceuil-actions-medicales-enquete-sante

Französische Atomwaffentests in Ekker, Algerien

Im algerischen In Ekker führte Frankreich 13 unterirdische Atomwaffentests durch, die zu einer massiven radioaktiven Kontamination des umliegenden Geländes, der Luft und möglicherweise sogar des Grundwassers sowie zur Strahlenexposition Hunderter Menschen führten. Bis heute wurden die Opfer nicht angemessen entschädigt und das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung nicht genauer untersucht.

Hintergrund
Der Ort In Ekker liegt an einer Hauptstraße durch die Sahara im Süden Algeriens, in einer Region, die von Nomadenstämmen und vorbeiziehenden Karawanen bevölkert wird. Bis zum Jahre 1962 war Algerien noch eine französische Kolonie. Nachdem überirdische Atomwaffentests der französischen Armee in der Nähe von Reggane zu Sorgen bei algerischen Politikern geführt hatten, begann Frankreich im November 1961 mit einer Reihe unterirdischer Tests bei In Ekker. Auch nach der algerischen Unabhängigkeit wurden die Tests fortgesetzt, da eine Klausel im Unabhängigkeitsvertrag von Evian der französischen Armee erlaubte, die Tests für fünf weitere Jahre durchzuführen. So wurden in Tunneln im Hoggar-Gebirgszug bei In Ekker bis Februar 1966 insgesamt 13 Atombomben detoniert. Zudem führte die Armee von Mai 1964 bis März 1966 unter dem Decknamen „Pluto“ fünf Testexplosionen mit Plutonium durch, bei denen ermittelt werden sollte, wie weit der radioaktive Niederschlag einer Plutoniumbombe durch Wüstenwinde verbreitet werden würde und wie groß die radioaktiv kontaminierte Fläche wäre.

Folgen für Umwelt und Gesundheit
Mindestens vier der dreizehn Atomwaffentests führten zu massiven Freisetzungen von Radioaktivität in die Atmosphäre aufgrund von Rissen im Felsen oder fehlerhaften Abdichtungen. Der Bekannteste dieser Tests fand im Mai 1962 unter dem Codenamen „Béryl“ statt. Nach der unterirdischen Explosion versagten die Rückhaltemaßnahmen des Tunnelschachts und eine radioaktive Wolke verteilte sich 2,6 km weit in die Atmosphäre, während geschmolzenes, kontaminiertes Gestein aus dem Tunnel geschleudert wurde. Es kam zu einer Massenpanik unter den ca. 2.000 Zuschauern des Tests. Noch in mehreren Hundert Kilometern Entfernung wurden infolge des radioaktiven Niederschlags erhöhte Strahlenwerte gemessen. In der unmittelbaren Umgebung wurden etwa 100 Franzosen und eine unbekannte Anzahl Algerier Strahlendosen von etwa 50 bis 600 mSv ausgesetzt. Dies entspricht in etwa der Dosis von 2.500 bis 30.000 Röntgenuntersuchungen (0,02 mSv pro Untersuchung) und liegt um ein Vielfaches über der natürlichen örtlichen Hintergrundstrahlung von 0,0003 mSv/h. In Folge erkrankten viele der Anwesenden, einschließlich des damaligen französischen Forschungsministers Gaston Palewski, der 1984 an Leukämie starb.

In der Lokalbevölkerung gibt es Berichte über Krebserkrankungen, Katarakte und Unfruchtbarkeit, die mit der Radioaktivität zusammenhängen könnten. Aufgrund inadäquater medizinischer Versorgung und fehlendem wissenschaftlichen Interesse sind jedoch bis heute keine epidemiologischen Studien in dieser Bevölkerung durchgeführt worden. Durch die atomaren Tests wurden große Teile der Region in eine radioaktive Ödnis verwandelt. Durch das Auswaschen der verseuchten Erde könnten auch Grundwasservorräte und nahe gelegene Oasen kontaminiert worden sein. Außerdem verblieben radioaktiver Schutt, Überreste der Testmaterialien und technische Instrumente in den Tunneln. Vieles wurde über die Jahre gestohlen, wodurch sich die radioaktiven Geräte über die ganze Region verbreiteten.

Ausblick
Als bleibendes Vermächtnis hat die „Béryl“-Explosion einen radioaktiven Lavastrom vor dem Tunneleingang zurückgelassen. 2007 haben unabhängige Forscher hier Strahlenwerte gemessen, die mit 0,1 mSv/h ca. 350-fach höher lagen als die normale Hintergrundstrahlung. Da es bis vor Kurzem keine Karten gab, die die radioaktiv verseuchten Gebiete anzeigten, konnten Nomaden mit ihren Herden die kontaminierte Region betreten, ohne sich über die Gefahren bewusst zu sein. Erst 1999 errichtete die algerische Regierung einen 40 km langen Zaun, um den Zugang zum kontaminierten Berg zu verhindern. Trotzdem ist die Gefahr nicht eingedämmt und weitere Forschung zu den Folgen für Umwelt und Gesundheit wird dringend benötigt.

Immer wieder haben algerische Hilfsorganisationen und französische Veteranenverbände Entschädigungen von der französischen Regierung verlangt, die bisher immer behauptet hatte, dass durch die Atomwaffentests weder Personal noch die Allgemeinbevölkerung Gesundheitsschäden erlitten hätten. Erst 2009 wurde durch die französische Nationalversammlung schließlich doch ein Gesetz verabschiedet, das eine finanzielle Entschädigung für Personen vorsieht, die an Atomwaffentests teilnahmen und anschließend an einer von 18 definierten Krebsarten erkrankten. 40 Jahre nach Beginn der Tests im Hoggar-Gebirge kommt diese symbolische Geste für viele der Hibakusha von In Ekker zu spät. Ihre Gesundheit und die ihrer Nachkommen wurden durch den Einsatz von Atomwaffen nachhaltig geschädigt.

  • Quellen
    Barrillot B. „French Nuclear Tests in the Sahara: Open the Files“. Science for Democratic Action, Institute for Energy and Environmental Research, April 2008. http://ieer.org/wp/wp-content/uploads/2012/02/15-3.pdf
  • „Radiological Conditions at the Former French Nuclear Test Sites in Algeria“. Internationale Atomenergie Organisation (IAEO). Wien, 2005. www-pub.iaea.org/MTCD/publications/PDF/Pub1215_web_new.pdf
  • „France to pay nuclear test compensation“. Webseite der BBC News,  09.06.09. http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/8076685.stm

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