„Krieg ist eine Kernelement des Zionismus“
Der Palästinenser Raja Shehadeh erklärt in seinem neuen Buch, wie es zu der Gewaltentladung im Gazastreifen kommen konnte.
von Arn Strohmeyer
Es ist erfreulich, dass auf dem Büchermarkt vermehrt Werke palästinensischer Autoren erscheinen, die die Sicht dieses Volkes auf den Endloskonflikt im Nahen Osten schildern. Denn die israelische Darstellung des Konflikts ist seit Jahrzehnten hinlänglich bekannt und beanspruchte in Deutschland ja so gut wie Monopolcharakter. In die Reihe wichtiger Neuerscheinungen gehört auch das Buch des palästinensischen Rechtsanwalts Raja Shehadeh: Was befürchtet Israel von Palästina? Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden.
Der Autor schildet ausführlich die Leiden, die die Zionisten den Palästinensern zugefügt haben. Er will in seinem Text, der als längerer Essay angelegt ist, drei Fragen beantworten. Erstens: Warum ist Israel nicht bereit, im eigenen Interesse die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden und einen dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinensern herbeizuführen? Zweitens: Warum hat sich die Welt nicht mit aller Kraft dafür eingesetzt, dass eine solche Friedenlösung zustande kommt? Und drittens: Welche Rolle könnte der gegenwärtige Gaza-Krieg mit seinem schrecklichen menschlichen Tribut für den Beginn einer globalen Veränderung spielen?
Die erste Frage beantwortet der Autor mit dem Dogma des Zionismus, dass das Land (wie es schon die Bibel verheißt) ausschließlich den Juden gehört. Deshalb schließen die zionistischen Führer die Teilung des palästinensischen Territoriums mit einem anderen Volk aus. Aber es gibt noch andere Gründe für die israelische Unnachgiebigkeit. So spielt die Rüstungsindustrie Israels eine wichtige Rolle, dass dieser Staat nicht friedenbereit ist. Denn Israel braucht Kriege mit den Palästinensern, um die neuesten High-Tech-Waffen zu testen, um sie dann exportieren zu können.
Mit anderen Worten: Der Kriegszustand ist ein Wesensmerkmal des zionistischen Staates und er braucht den Krieg auch dafür, die politisch gespaltene israelische Gesellschaft zusammenzuhalten. Der Autor greift zum Beleg dieser These auf ein Zitat des verstorbenen israelischen Publizisten Uri Avnery zurück, der schrieb: „Was hält [die gegensätzlichen Gruppen in der israelischen Gesellschaft] zusammen? Der Konflikt natürlich. Die Besatzung. Der ständige Kriegszustand. Es ist nicht so, dass der israelisch-arabische Konflikt Israel aufgezwungen worden wäre. Vielmehr ist es umgekehrt: Israel hält den Konflikt aufrecht, weil es den Konflikt für seine Existenz braucht.“
Kriege sind aber die äußerste Präsentation von Gewalt und setzen ein großes Maß von Brutalität und Grausamkeit voraus, deren Wurzel der Autor in der israelischen Angst verortet. Angst, die sicher aus der Geschichte der Juden und besonders aus dem Holocaust herrührt. Sie stumpft die Menschen ab und führt zu äußerster Verrohung. Wie könnte man sonst Bomben und Artilleriegeschosse so gewaltigen Ausmaßes auf eine völlig ungeschützte Bevölkerung wie jetzt im Gazastreifen einsetzen?
Und die Gewalt der Hamas? Der Autor bekennt, dass ihn das Massaker am 7. Oktober 2023 nicht überrascht hat. Denn Menschen übten auch dann furchtbare Gewalt aus, wenn sie keine Hoffnung mehr auf ein menschenwürdiges Leben hätten. Dieser Punkt sei im Gazastreifen durch die totale Blockade Israels und durch das Elendsdasein, zu dem man die Menschen dort verurteilt hatte, erreicht gewesen. Dazu kommen weitere Gründe: Israels vorausgehende Kriege gegen den Gazastreifen, die die Infrastruktur dort weitgehend zerstört und Tausende von Menschenleben gefordert hatten. Außerdem sitzen Tausende von zumeist unschuldigen Palästinensern in israelischen Gefängnissen. Und nicht zuletzt zählen Palästinenser die ständigen israelischen Provokationen gegen die Al-Aqksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem auf, die drittheiligste Stätte des Islam.
Auf die beiden Fragen, warum die Welt sich nicht intensiv für eine Friedenslösung im Nahen Osten eingesetzt haben und ob der jetzige Gaza-Krieg mit seinen furchtbaren Verlusten an Menschenleben ein globales Umdenken zur Folge haben wird, kann der Autor auch nur vage Antworten geben. Auf der einen Seite machen die Vorwürfe des IGH, die Israel des Völkermords bezichtigen und verschiedene UNO-Resolutionen Hoffnung, dass sich der Druck auf Israel erhöht. Vor allem der globale Süden wird in diesem Sinne tätig. Auf der anderen Seite werden solche positiven Ansätze durch die Politik der USA konterkariert, denn die westliche Vormacht und ihre Verbündeten statten Israel wie in der Vergangenheit weiter mit den modernsten Waffen und vielen Dollar-Milliarden aus.
So ist der Blick des Autors in die Zukunft wenig optimistisch. Der israelische Regierungschef Netanjahu verkündet ständig, dass es keinen palästinensischen Staat geben wird, und das israelische Parlament hat sogar einen entsprechenden Beschluss gefasst. Der Autor ist aber davon überzeugt, dass das Nichtzustandekommen eines palästinensischen Staates für Israel verheerende Folgen haben wird: er werde sich in einen offen faschistischen Staat verwandeln, „der von Krieg zu Krieg ziehen muss, wobei jeder Krieg tödlicher sein muss als der letzte.“
Trotz der pessimistischen Botschaft: Raja Shehadeh hat ein äußerst informatives Buch geschrieben, das viel zum Verständnis des Jahrhundert-Konflikts zwischen Zionisten und Palästinensern beiträgt.
Shehadeh, Raja: Was befürchtet Israel von Palästina? Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden, Westend-Verlag Frankfurt/ Main, ISBN 978-3-86489-473-2, 15 Euro