Sieger und Besiegte

Nicht nur sie wurden am 08. Mai 1945 befreit – KZ-Häftlinge (Ort unbekannt)
Foto aus: Friedensrat Markgräflerland, erschienen zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.

Zur Deutungshoheit über den 8. Mai 1945

Von Helmut Donat, Junge Welt vom 03./04. Mai 2025

Im Mai 2023 fand in der Bremer Landeszentrale für politische Bildung eine Veranstaltung zum Thema »Der 8. Mai: Gedenken und Konsequenzen für Erinnerungskultur und Politik« statt – einberufen von Helga Trüpel für die Europa-Union und von Hermann Kuhn für die Deutsch-Israelische Gesellschaft, beide Politiker von Bündnis 90/Die Grünen. Es ging darum, welche Bedeutung der Appell »Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus« angesichts des Ukraine-Krieges heute hat und welche Lehren aus dem 8. Mai 1945 zu ziehen seien.

Auffallend an den Ausführungen Kuhns und der von Trüpel moderierten Diskussion mit Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft war der mäßige historische Tiefgang. Der Erste Weltkrieg kam gar nicht vor. Dabei hat es nach 1918 bereits eine beachtliche »Nie wieder Krieg«-Bewegung gegeben. Ebenso haben sich große Teile der Weimarer Friedensbewegung unter dem Motto »Hakenkreuz und Stahlhelm sind Deutschlands Untergang« bereits 1923/24 und erneut seit 1929/30 vehement gegen den drohenden Faschismus gewandt.

Wo viele miteinander reden und die historischen Kenntnisse eher dürftig sind, kommt zumeist Ärgerliches heraus. So verstieg sich Kai Wargalla, für die Bremer Grünen Sprecherin für Kulturpolitik und Erinnerungsarbeit, Antifaschismus und Strategien gegen Rechtsextremismus, Queer und Sport, zu der Behauptung: »Die deutsche Bevölkerung wurde am 8. Mai nicht befreit, sondern besiegt!« Eine Aussage, die sich mehr oder minder im Fahrwasser rechter Erzählungen bewegt. Statt sich aber mit der an ihr formulierten Kritik zu befassen, schirmte Hermann Kuhn seine Parteigenossin ab und erklärte, sie habe es nicht so gemeint. Woher weiß er das? Und warum sagt sie etwas, das sie gar nicht so meint?

Zur Erinnerung an den 8. Mai 1945 fand in Bremen 2005 – »Sechzig Jahre und ein Tag danach – Rückschau und Ausblick« – eine Podiumsdiskussion in der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen mit diversen Zeitzeugen statt. Zu ihnen zählte neben dem früheren Bremer Bürgermeister Hans Koschnick (1929–2016) auch der einstige »Sturzkampfflieger« Hans Jürgen Otte (1921–2010), der sich am Ende des Krieges noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befand.

Otte gehört zu den wenigen deutschen Offizieren, die schon ihre Gefangenschaft, in der er nach eigener Aussage mehr als je zuvor über deutsche Literatur und Kultur gelernt habe, als Befreiung empfanden. Anders als es ansonsten der Fall ist, dokumentieren seine »Erinnerungen eines Kampffliegers an Krieg und Gefangenschaft 1940–1947« einen Neuanfang, der frei von Bitterkeit ist und sich von der Versöhnung mit dem einstigen »Feind« leiten lässt. Keiner der Teilnehmer an der Debatte über den 8. Mai wäre vor zwanzig Jahren auf den Gedanken von Kai Wargalla gekommen. Ist das nur ein Generationenproblem?

Nein. Die Teilnehmer betrachteten die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 als den Tag, an dem Europa restlos von der Nazigewaltherrschaft befreit wurde und der furchtbarste Totentanz, den die Welt je erlebt hat, vorüber war. Namenloses Elend, Sorgen, Hunger und Krankheit zeigten überall ihr erschütterndes Antlitz. Hoffnungen waren zerbrochen, törichter Glaube zerstört. Städte lagen in Schutt und Asche. Die Leiber Verhungerter häuften sich vor den Verbrennungsöfen der Konzentrationslager. Die Not und das Elend, das die Deutschen über die Völker gebracht hatten, waren auf sie selbst zurückgeschlagen.

Die Deutschen standen nach dem 8. Mai 1945 vor großen Herausforderungen. Neben den materiellen Schäden galt es, sich auch den moralischen Verheerungen zu stellen. Zunächst waren die Kriegsgegner und Pazifisten rehabilitiert. Doch schon bald gerieten sie erneut ins Abseits. Die Niederlage ging nicht einher mit einer aufrichtigen Reue über die begangenen Verbrechen. Im Vordergrund standen in der Bundesrrepublik alsbald Entlastungslegenden, gepaart mit dem Unwillen zu trauern.

Die Nazis und ihre Mitläufer, zunächst untergetaucht, krochen, vom Ost-West-Konflikt beflügelt, aus ihren Löchern hervor. Über die Vergangenheit breitete man einen Mantel des Schweigens – nicht zuletzt zum Schaden der jungen Generation, der man die Wahrheit vorenthielt und deren Identitätsfindung man enorm behinderte bzw. in Bahnen lenkte, die der »Tätergesellschaft« verpflichtet waren.

Die Opfer gingen bei Entschädigungsverfahren in der Regel leer aus, während die Täter bei ihrem Berufseintritt Vergünstigungen erhielten. Für die Zeit nach 1945 gilt: Viele Kinder profitierten, ohne daran selbst einen Anteil zu haben, von den durch Fehl- oder verfälschende Entscheidungen bei Entnazifizierungsverfahren zuerkannten Vorteilen, zum Beispiel bei Rentenzahlungen an Witwen von Nazitätern und Mittätern. Von solchen Überlegungen zum 8. Mai 1945 war das von den Bremer Grünen 2023 veranstaltete »Erinnerungsevent« weit entfernt. Und es ist zu befürchten, dass es heute kaum anders wäre.

Über den 8. Mai zu reden, ohne sich mit den Ursachen und Folgen des »Dritten Reiches« zu beschäftigen, verdeutlicht einmal mehr, dass die Deutschen sich erneut aus der Verantwortung stehlen. Angehöriger eines Volkes zu sein, das in den Augen der Welt für zahllose Verbrechen verantwortlich ist, wie soll das keine Spuren in den Seelen der Nachgeborenen hinterlassen? Je weniger das bewusst ist, um so größer die Bereitschaft zu einer Flucht aus der Last des Eingeschnürtseins hin zu einer Politik, die sich auf mehr Verantwortung und Gewalt in der Welt stützt, um einer »regelbasierten internationalen Ordnung« die Stange zu halten – statt vor der eigenen Tür zu kehren.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist längst einem »Versöhnungstheater« (Max Czollek) gewichen, das sich allzu oft selbst inszeniert. Strikt vermeiden es deren Protagonisten, darauf hinzuweisen, dass große Teile der Gesellschaft mit der Aufarbeitung der Verbrechen an Juden, Sinti, Roma etc. seit langem nichts im Sinn haben – und sich mit dem Schein nach wichtigeren Dingen befassen.

Auffassungen wie die von Kai Wargalla bekräftigen diesen Trend, weil sie sich mit ihrer Interpretation des 8. Mai 1945 an der Gefühlslage der Bezwungenen orientiert und diese fortschreibt. Kehrseite ihrer Haltung ist, dass ihr jene, die den 8. Mai als Befreiungstag begrüßten und feierten, keine Silbe wert sind. Sie ist ein Opfer der nach 1945 behinderten Aufklärung über die Ursachen jener Kontinuität der Geistesverirrung in der deutschen Politik seit 1871, die, wenn man in langen historischen Räumen denkt, vielleicht noch gar nicht zum Abschluss gelangt ist.

Hätten unsere Eltern und Großeltern uns ihr Versagen vor Augen geführt und uns aufgefordert, es künftig besser zu machen, stünden wir heute im Umgang mit Antisemitismus und extremen Rechten ganz anders da.

Es geht nicht darum, was die Deutschen am 8. Mai 1945 empfunden haben oder ob ich seinerzeit ähnlich gedacht hätte. Aus heutiger Sicht ist nicht so zu tun, als wären Krieg und Holocaust nicht geschehen oder es an der Zeit sei, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Allein das Wissen um die Opfer und was ihnen angetan worden ist, veranlasst mich, aus rassistischen oder anderen zweifelhaften Gründen verfolgten Menschen beizustehen.

Nähme ich diese Haltung nicht ein, stünde ich in jener Gefahr, in der sich einst unsere Eltern und Großeltern befanden. Damit überhebe ich mich keineswegs über sie, sondern stelle klar, dass ihr Handeln im »Dritten Reich« für mich heute keine Geltung hat und sie mir in diesem Punkt keine Vorbilder sind. Auch damit überhebe ich mich nicht über sie. Vielmehr lasse ich ihnen jene Gerechtigkeit widerfahren, die ihnen ausgeredet worden ist und die sie selber nicht an den Tag gelegt haben.

Indem ich das Band einer unreflektierten Identifikation mit dem Verhalten meiner Eltern und Großeltern durchschneide, gebe ich letzten Endes ihrem Fehlverhalten den einzig möglichen Sinn und ziehe daraus den Schluss, nicht den gleichen Fehler zu begehen. So betrachtet, fühle ich mich dem »Erbe« ihrer Nazivergangenheit »verpflichtet« und gerate nicht in die zweifelhafte Versuchung, ihre Verfehlungen durch falsche Rücksichtnahmen abzumildern. Menschen, Verbrecher oder Mitläufer in ihrem Werdegang zu »verstehen«, bedeutet nicht, ihre Missetaten zu akzeptieren.

Wargalla spricht aus der Sicht der Täter und Mitläufer, jedenfalls nicht aus der Sicht jener, die sich in den Jahren vor und nach 1933 gegen die Nazis in Wort und Schrift gewandt haben. Nicht die Bevölkerung insgesamt ist besiegt worden, sondern die Wehrmacht und mit ihr das letzte Aufgebot, der von den Nazis in einen aussichtslosen Abwehrkampf geschickte »Volkssturm« etc.

Des weiteren bestand das Volk nicht nur aus Nazianhängern, wenn sich auch jene, die nicht mit den Wölfen heulten, angesichts der Durchhaltestrukturen und -parolen in einer hoffnungslosen Lage befanden. Doch es gab sie: Gruppen und Menschen, die den Sieg der Alliierten und die Niederlage des Dritten Reiches herbeisehnten und als Befreiung betrachteten. Ihrer Haltung zu folgen, dürfte im Rahmen einer zukunftsweisenden Erinnerungs- und Bildungsarbeit weit mehr Bedeutung haben als der Rückgriff auf eine wie immer geartete Stimmungslage von einer unterlegenen Bevölkerung, die sich Jahre zuvor noch an den Erfolgen der deutschen Truppen berauscht hat.

Zu denen, die sich nicht als »besiegt« ansahen, gehört neben vielen anderen auch Erna Maria Johansen, die vor und während des Naziregimes im Widerstand gestanden hat. In dem von ihrer Tochter Angelina Sörgel herausgegebenen »Kriegstagebuch« schildert sie eindrucksvoll, wie es ihr gelungen ist, als geächtete Reformpädagogin, Nazigegnerin und Mutter von vier Kindern den Krieg zu überstehen. Siegesmeldungen, Heldentaten oder gar Hassparolen sind in ihren Erinnerungen nicht zu finden. Inmitten einer den deutschen Eroberungen und dem Regime zustimmenden Bevölkerung bewahrt sie ihre aufrechte und humane Haltung. Widrigkeiten wie Angst und Flucht, Hunger und Gewalt, Schikanen und Bedrohungen tritt sie mutig entgegen und gibt ihren Widerstand gegen das Unrechtsregime nie auf. Ihren Kindern vermittelt sie demokratische Werte und sucht, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.

Erna Maria Johansen wurde am 18. April 1911 in Grabow bei Ludwigslust im Mecklenburgischen in eine Arbeiterfamilie hineingeboren. Ihr Vater, als Oberschweizer im Kuhstall tätig, war im Ersten Weltkrieg 1917 in Frankreich gefallen. Ihre Mutter, aus armen Verhältnissen stammend, verdingte sich als Dienstmädchen. Sie starb bereits 1924 mit 32 Jahren an Auszehrung.

Erna Maria wuchs zunächst in Berlin auf, wohin ihre Eltern auf der Suche nach Arbeit gezogen waren. Nach dem Tod des Vaters gingen die Großmutter und Mutter mit ihrer Tochter und ihren drei Söhnen nach Mecklenburg zurück. Durch die Heirat der Mutter mit dem Schneider Hermann Helmke bekam Erna Maria einen Stiefvater und bald noch einen Bruder. Als Älteste übernahm sie die Mutterrolle für die jüngeren Geschwister. Sie war klug, die Eltern erlaubten ihr den Besuch der Realschule, und als einzige von den fünf Kindern erwarb sie die Mittlere Reife. Erna Maria ließ sich am evangelischen Stift Bethlehem in Ludwigslust zur Kindergärtnerin ausbilden. In jener Zeit lernte sie Henri Johansen kennen, Jugendfunktionär und Versammlungsredner der KPD aus Waren an der Müritz. 1931, nach ersten Berufserfahrungen in Rostock und Waren, folgte sie ihm nach Berlin und heiratete ihn.

Als junges Mädchen oft mit den Wandervögeln und der Naturfreundejugend unterwegs, trat sie in die Sozialistische Arbeiterjugend ein. In Berlin engagierte sie sich in dem hochangesehenen Kinderheim bei der weithin geschätzten Reformpädagogin Anna von Gierke. Durch Henri, der zu dem Kreis um Karl Korsch gehörte, eröffnete sich ihr eine zusätzlich wichtige Sphäre auf ihrem Weg in ein neues, selbstbestimmtes Leben. Korsch, wegen seiner Kritik am zunehmenden Stalinismus 1926 aus der KPD ausgeschlossen – wie später auch Henri –, gilt als bedeutender Erneuerer der marxistischen Theorie des 20. Jahrhunderts.

Erna Maria sog die Impulse, die sich ihr boten, begierig auf. Doch unverhofft wurde sie Mutter, ungewollt, schwebte ihr doch ein Leben in anderen Sphären vor. Gleichwohl begriff sie auch ihre weiteren Kinder als »goldene Kugeln an ihrem Bein«. Ihnen sollte es an nichts mangeln – ungeachtet der geistigen Unterdrückung und materiellen Verelendung, die nach 1933 ihr Leben als Verfolgte prägten.

Die Widerstandsgruppe von ihr und ihrem Mann – Flugblätter transportierten sie im Kinderwagen ihres Sohnes Pjotr – flog schon bald auf. Auch die weiteren Söhne erhielten exotische Vornamen: Anatoli, Baber und Angelus – anstelle von Namen wie Wilhelm, Otto, Hermann oder gar Adolf. Mit Berufsverbot belegt, befand sich die junge Familie in tiefer Armut, musste, mit der Miete im Rückstand, die Wohnung räumen. Wie viele Freunde und Genossen vereinsamten sie immer mehr. Henri Johansen, von der Gestapo überwacht, musste Notstandsarbeiten verrichten: Leichen waschen, Friedhöfe und Straßen kehren, Schlacken sortieren.

Den Glauben an eine bessere Welt und Zukunft gaben sie dennoch nicht auf. Als Henri 1943 eingezogen wurde, brachte Erna Maria die vier Kinder allein durch den Krieg. Es gelang ihr, sie von faschistischen Einflüssen frei zu halten. Absichtlich kaufte sie in dem nur für Juden zugelassenen Fleischerladen ein. Ihre Söhne gab sie 1940/41/42 in die Deutsch-Russische Schule, wo die Naziideale noch keine Rolle spielten.

Die Bombardierung Berlins führte in allen Stadtteilen zu immensen Zerstörungen. Schließlich mussten Frauen, Kinder und Alte die großen Städte verlassen. Erna Maria und die Kinder wurden ins westliche Ostpreußen evakuiert. Viele Frauen stießen auf harsche Ablehnung und mussten sich sagen lassen: »Ihr Berliner, ihr kriegt nicht ein Stück Obst von uns für eure Kinder!«

In Folge des Vormarsches der Roten Armee flüchteten sie zurück nach Berlin und wohnten vom Spätsommer 1944 bis zum Februar 1945 in einem Behelfsheim am Tegeler Weg. Eine Fehlgeburt trennte Erna Maria von ihren Kindern, die in einem Waisenhaus, dann in einem Kinderheim untergebracht wurden. Die Zustände dort waren so katastrophal, dass sie auf eigenen Wunsch das Krankenhaus verließ, den Hilferufen ihrer Kinder folgte und – zwei von ihnen litten unter hohem Fieber – sie aus dem Heim herausholte. Unerwartet luden ihre Schwägerin und ihr Mann sie ein, zu ihnen nach Ribnitz in Mecklenburg-Vorpommern zu kommen. Gerade zur rechten Zeit, denn am Abend nach ihrer Abfahrt wurde das Behelfsheim von Bomben getroffen.

Ihr Schwager, als Schlosser in einem Flugzeugwerk tätig, wo er Sabotageakte verübte und dabei unentdeckt geblieben war, täuschte aus politischen Gründen eine rheumatische Krankheit vor. Auf dem Dachboden installierte er eine Empfänger- und Sendestation für ausländische Nachrichten und Antworten darauf. Ebenso verfügte er über Mittel zum Herstellen von Flugblättern. Sobald die Kinder schliefen, stiegen er, seine Frau und Erna Maria auf den Dachboden und verfassten Texte gegen den Naziwahn und die Hitler-Regierung, gegen die Menschenvernichtung und den »verruchten Krieg«. Einer der Slogans lautete, den Nerv der Zeit treffend: »Glaubt nicht an den Sieg!«

Mit Hilfe eines Setzkastens für Schulkinder druckten sie die Buchstaben auf Kleinhandzettel, was viel Zeit und Geduld beanspruchte. Ende März 1945 begannen die drei mit der Verbreitung und warfen die Flugblätter in die Briefkästen. Noch vor Tagesanbruch waren sie wieder zu Hause. »Wenn es auch eine bescheidene Aktion blieb«, so Erna Maria, »sie war doch nicht ungefährlich und ein Zeichen des Widerstandes: für uns wie ein kleiner Triumph.«

Offenbar haben sie dazu beigetragen, dass Ribnitzer Bürger am 1. Mai 1945 den »Volkssturm« entwaffneten und so weiteres Blutvergießen verhinderten. »Die Zeit«, erinnert sie sich, »schien stillzustehen – als hielten die Menschen den Atem an. Weiße Tücher und Laken hingen aus den Fenstern der Siedlungshäuschen; der Schwager warf ein langes rotes Fahnentuch über das Treppengeländer. So erlebten meine Söhne, wie ein Krieg zu Ende geht.«

Nach 1945 hat sie zunächst in Ribnitz die Fürsorge neu aufgebaut und ein Kinderheim für elternlose Flüchtlingskinder gegründet. Bei der Rückkehr ihres Mannes aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Juli 1946 war sie an der demokratischen Erziehungsreform in Berlin beteiligt, arbeitete im sozialdemokratischen Arbeitskreis Neue Erziehung mit. Der Berliner Senat stellte sie als Fürsorgerin ein. Mit sechzig Jahren schied sie als Sozialamtsrätin und stadtweit angesehene Pädagogin aus.  In ihrer Pensionszeit publizierte sie populärwissenschaftliche Bücher über die Sozialgeschichte der Kindheit und das Leiden der Kinder im Krieg. Aus ihrer nicht veröffentlichten Autobiographie las sie in Berliner Buchläden vor: »Die rote Großmutter erzählt«.

Erna Maria Johansen hat ihre Kinder vor den Wirren und Grausamkeiten des Krieges und der faschistischen Ideologie beschützt. Das ist ein ganz anderer als der geläufige Blick auf den »verlorenen« Krieg und den 8. Mai 1945: kein Verlust, keine Scham, sondern ein Gewinn. Die Perspektive auf eine demokratische und gerechte Gesellschaft. Und ein Stolz darauf, die Schrecken des Faschismus mit aufrechter Haltung überstanden zu haben.

Der Artikel ist im Original erschienen in der Tageszeitung Junge Welt (Ausgabe vom 03.05.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage)
Veröffentlicht hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Helmut Donat ist Verleger, Publizist und Friedensforscher
Erna Maria Johansen: Aus dem Kriegstagebuch 1939–1945. Hrsg. v. Angelina Sörgel. Donat-Verlag, Bremen 2024, 72 Seiten, 12,80 Euro

Hans Jürgen Otte: »Bloß nicht den Russen in die Hände fallen!« Erinnerungen eines Kampffliegers an Krieg und Gefangenschaft 1940–1947. Donat-Verlag, Bremen 2004, 216 Seiten, 14 Euro

 

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