Wenn ich sterben muss

Wenn ich sterben muss
musst Du leben
um meine Geschichte zu erzählen
um mein Hab und Gut zu verkaufen
um ein Stück Stoff zu besorgen und ein paar Schnüre
(lass es weiß sein und mit einem langen Schweif)
sodass ein Kind, irgendwo in Gaza
während es dem Paradies ins Auge sieht
wartend auf seinen Vater, der wie ein Blitz verschwand
und der von niemanden Abschied genommen hat,
nicht einmal von seinem Leib,
nicht einmal von sich selbst
den Drachen sieht,
meinen Drachen, den Du gemacht hast,
wie er oben fliegt
und für einen Augenblick denkt,
dass ein Engel da ist, die die Liebe zurückbringt.
Wenn ich sterben muss, lass es Hoffnung bringen, lass es eine Legende sein.
Dr. Refaat Alareer

Mögen die Worte, die wir heute aussprechen, zigtausendfach als weiße Drachen aufsteigen, um die Hoffnung zurückzubringen und um zu Legenden zu werden.

Dr. Refaat Alareer war ein palästinensischer Schriftsteller, Dichter, Übersetzer, Universitätsprofessor für englische Literatur an der Islamischen Universität von Gaza, und Aktivist im besetzten Gazastreifen. Seine Waffe war die Sprache.

Er wurde 44 Jahre alt.

Am 6. Dezember 2023 wurde er gemeinsam mit seinem Bruder, seiner Schwester und ihren Kindern im Haus seiner Schwester bei einem israelischen Luftangriff getötet.

Nur 5 Wochen vor seinem Tod schrieb er das Gedicht „Wenn ich sterben muss“

Zu unterrichten bedeutete für Dr. Refaat Alareer mehr als nur eine Arbeit. Für ihn und für seine Studenten war es ein dynamischer und transformativer Prozess.
Er wollte, dass seine Studenten das Klassenzimmer mit neuen Augen verlassen und in der Lage waren, in unterschiedliche Schuhe zu schlüpfen, um zu verstehen, wie sich das Leben anfühlt, wenn es aus anderen Perspektiven betrachtet wird.

Er hat, so sagen Studenten, Freunde und Kollegen, die ihn kannten, seine Studenten immer ermutigt, neu entwickelte Gedanken mit anderen zu teilen und zu schauen, welche Argumente dafür und welche dagegen sprechen.
Dr. Refaat Alareer liebte Shakespeare. Er unterrichte seine Studenten über den Holocaust und die Gefahr des Antisemitismus
Er machte aufmerksam auf die Kämpfe verschiedener unterdrückter Nationen und ermunterte sie zur Solidarität mit diesen Völkern.
Er war unterstützend und glaubte an seine Studenten. Er war der Mitbegründer von „We are not numbers“, einer Non-Profit-Organisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die Stimmen palästinensischer Jugendlicher in Gaza und in den Flüchtlingscamps hörbar zu machen.

Nicht aus Hass, sondern aus Liebe stehen wir heute hier, um der vielen Menschen zu gedenken, die in Gaza den völkermörderischen Angriffe der israelischen Armee zum Opfer gefallen sind, um ihnen einen Namen zugeben.

Nicht aus Hass, sondern aus Liebe zu den Menschen, die genau wie ich, wie Du, wie Sie, lachen, tanzen, weinen, hoffen, träumen, singen und sich nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit sehnen, was ihnen schon so lange von Israel und der westlichen Werte-Gemeinschaft verwehrt wird.

Das Leid, das die Menschen dort tragen, bricht mir das Herz.

Jeden Morgen, bevor ich mich neu entscheide, die Nachrichten über die Geschehnisse im Nahen Osten zu lesen, spüre ich die Beklemmung und den Impuls mich abwenden zu wollen, nicht mehr lesen zu wollen, was alles in dieser Nacht passiert ist, und so zu verhindern, dass das Leid der Menschen zu mir durchdringt.

Die Hoffnung, dass die vielen mahnenden Worte der westlichen Regierungen mehr sind als leere Worthülsen, habe ich längst verloren.

Jeden Morgen, wenn ich es dann doch tue, und die Nachrichten lese, spüre ich, wie mein Herz erneut zerbricht. Manchmal bin ich selbst erstaunt, dass es da noch etwas gibt, das zerbrechen kann.

Doch nicht hinzusehen, die Augen zu verschließen, heißt für mich, die Opfer dieser gerade stattfindenden ethnischen Säuberung und des anhaltenden Völkermordes zu betrügen.

Seit mehr als 5 Wochen ist die Zivilbevölkerung im Norden Gazas wieder unter Beschuss, Wasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung werden ihnen komplett verwehrt. Laut den Vereinten Nationen sind 70 % der identifizierten getöteten Menschen Kinder und Frauen.

Ein mörderischer Krieg, der auch im Westjordanland inzwischen viele Opfer gefordert hat und sich nun auf den Libanon ausdehnt. Das Hinsehen erfordert Mut.
Die Wahrheit über das Leid der Menschen anzuerkennen, heißt, ihnen ein Gesicht zu geben.

Weltweit stehen Menschen, jüdischen, christlichen, moslemischen, buddhistischen Glaubens, Menschen ohne Glaubenspräferenzen, Menschen , die einfach nur Frieden wollen, gemeinsam auf der Straße, um gegen den Wahnsinn zu protestieren.

Es gibt mir Kraft, zu wissen, ich bin nicht allein.

Ich kann den Vernichtungskrieg Israels nicht stoppen, weder in Gaza, noch im Westjordanland, auch nicht im Libanon.

Oft fühle ich mich hilflos, und es scheint unmöglich, die schmerzlich Wahrheit über das, was in Gaza passiert, auszusprechen.

Sie dennoch auszusprechen, an meinem Glauben an die Menschlichkeit festzuhalten, trägt hoffentlich dazu bei, dass immer mehr Menschen aufwachen.
Und ja, es ist so, immer mehr Menschen sehen den Horror, der in Gaza stattfindet.

Und so ist es unsere uns selbst gestellte Aufgabe, wach zu bleiben für diesen grausamen Krieg gegen die Menschen in Gaza, und so den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, damit sie endlich die Waffenlieferungen an Israel stoppt, ehrlich für Friedensverhandlungen eintritt und dafür sorgt, dass die humanitäre Hilfe die Menschen in Gaza endlich wieder erreicht.

In der Zwischenzeit kann ich nur hoffen, dass die Menschen in Gaza sehen, sie sind nicht allein, wir sehen sie und erzählen von ihnen.

In diesen Stunden, in denen wir die Namen vieler getöteter Menschen lesen, wollen wir deutlich machen, dass sich hinter den anonymen Zahlen Menschen, mit Geschichten, Hoffnungen, Sehnsüchten und Träumen, verbergen.

Mögen unsere Worte aufsteigen wie zigtausend Drachen und zu Legenden werden.

(Marion Lange, anlässlich der 48-Stunden-Gedenkveranstaltung für die in Gaza getöteten Menschen)