AK-Nahost-Hintergründe 2024-12-25

1. Ein sehr sehenswerter, weil kritischer Bericht im Weltspiegel (9 Min.): Israel lässt Beduinen-Dörfer in der Negev-Wüste abreißen – unter Protest. Diesmal werden Häuser von Beduinen, die israelische Staatsbürger sind, abgerissen. https://www.youtube.com/watch?v=gyOB3IJdP2M

2. Noch eine Empfehlung: Am 19.12. erschien in der taz ein sehr gutes Interview mit Enzo Traverso, 67, (Link) einem italienischen Historiker, der über Auschwitz und die Moderne, die Intellektuellen und den Holocaust geforscht hat. Seit 2013 ist er Professor an der Cornell University in New York.
 „Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“

Das Massaker der Hamas an Juden am 7. Oktober 2023 als Pogrom zu bezeichnen, ist falsch, findet der Historiker Enzo Traverso. Ein Gespräch über den Krieg in Gaza und missbräuchliche Erinnerung an die Schoah.

Hier einige Auszüge:

Die Art und Weise, wie die Ereignisse des 7. Oktober dargestellt wurden und werden, bereitet mir Unbehagen. Der Angriff der Hamas wurde als größtes Pogrom gegen Juden seit der Schoah bezeichnet, und damit wurde das israelische Vorgehen in Gaza gerechtfertigt. Dieses Framing wurde von vielen westlichen Regierungschefs und Staatsoberhäuptern aufgenommen und praktisch Allgemeingut.

Ein Pogrom richtet sich gegen eine unterdrückte Minderheit, die praktisch keine Möglichkeit hat, sich dagegen zu wehren. Sind das die Israelis von heute? Nein. Außerdem wird damit eine direkte Verbindung vom 7. Oktober zum Holocaust gezogen.

Ich bin überzeugt, dass sich der Hass der meisten Menschen in Palästina gegen Israelis richtet, weil sie Bürger jenes Landes sind, das sie unterdrückt. Nicht, weil sie Juden sind.

Dennoch gibt es keine öffentliche Debatte über das, was gerade in Gaza passiert. Selbst die deutsche Presse, die ich, soweit ich sie verfolgen kann, sehr schätze, führt sie nur sehr eingeschränkt.

Und ich sehe, wie diese gewaltige Arbeit der Erinnerung an die Schoah – die auch eine Arbeit im Dienste der Demokratie war – in ihr Gegenteil verkehrt wird. Sie wird dazu benutzt, um Ungleichheit, Unterdrückung und Kolonialismus zu legitimieren.
Der Zionismus, der überlebt hat, ist ein kolonialer Na­tio­nalismus. Er schließt alle, die nicht jüdisch sind, aus. Denn vollwertiger israelischer Staatsbürger zu sein ist ans Jüdischsein gebunden – das gilt immer noch, auch wenn viele Israels nicht gläubig sind und erhebliche Probleme mit ihren orthodoxen Landsleuten haben. In Israel leben die schlimmsten Seiten dessen fort, was der Nationalismus in Europa hervorgebracht hat.

Staatsräson bedeutet: Es gibt nationale Interessen, die über der Demokratie und über den Gesetzen stehen, die für alle Bürger gelten. Die bedingungslose Unterstützung Israels als Staatsräson bedeutet: Israel darf machen, was es will. Das steht in absolutem Widerspruch zu der Kultur, die aus der historischen Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hervorgegangen ist: eine Demokratie zu schaffen, die offen und pluralistisch ist. Damit einen weiteren Genozid zu rechtfertigen, ist brandgefährlich – erst recht in einer Situation, in der Europas Rechte immer größere Erfolge feiert.

Mit der Erinnerung an den Holocaust wird heute leider auch die Unterdrückung der Palästinenser gerechtfertigt. Im Westjordanland herrscht ein System der Apartheid, das ist eine Tatsache, das haben die UN oder Amnesty hinreichend dokumentiert. Aber diese Apartheid wird gerechtfertigt mit dem, was Juden in der Geschichte widerfahren ist. Diese Art der Erinnerung, die alles, was Israel tut, mit der Schoah rechtfertigt, hat aus meiner Sicht eine schreckliche Folge: Sie wertet die Schoah ab. Sie trägt zum Antisemitismus bei, nicht zuletzt in der arabischen Welt. Und sie ist Wasser auf die Mühlen all derer, die die Vernichtung der Juden ganz leugnen und zur reinen Erfindung erklären.
Langfristig muss es eine Lösung geben. Ich sehe keine andere, als dass sich alle Beteiligten klar werden, dass dieses Stück Erde von zwei Völkern bewohnt wird. Beide haben das Recht dazu und müssen folglich lernen, zusammenzuleben. Sich im 21. Jahrhundert als homogene Gesellschaft zu definieren und nach außen abzuschließen ist eine Verirrung.

3. Aus der Frankfurter Rundschau: Irisch-israelische Eiszeit: https://www.fr.de/politik/irisch-israelische-eiszeit-93476245.html
Nach der angekündigten Schließung der israelischen Botschaft sprach der Dubliner Regierungschef Simon Harris von der „Diplomatie der Ablenkung“ und beschuldigte Israel „verheerender Kriegsverbrechen in Gaza“. Umgehend beschimpfte Israels Außenminister Gideon Saar den irischen Premier als Antisemiten. Das am Mittwoch erstmals nach der Wahl im November wieder zusammentretende Parlament Dáil will schon bald ein Gesetz verabschieden, das den Handel mit Israels besetzten Gebieten im Westjordanland und auf dem Golan verbieten würde.

4. Gideon Levy in Haaretz: Benjamin Netanyahu wird nächsten Monat nicht zur Hauptzeremonie anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz nach Polen reisen, da er befürchtet, aufgrund des vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen ihn erlassenen Haftbefehls verhaftet zu werden.
Der 7. Oktober 2023 entwickelt sich immer mehr zu einem schicksalhaften Wendepunkt für Israel, viel mehr als es derzeit den Anschein hat, und ähnelt nur seinem vorherigen Unglück, dem Krieg von 1967, der ebenfalls nicht rechtzeitig erkannt wurde. Im Sechstagekrieg verlor Israel seine Bescheidenheit und am 7. Oktober seine Menschlichkeit. In beiden Fällen ist der Schaden irreversibel.
In der Zwischenzeit müssen wir das historische Ereignis betrachten und seine Bedeutung erfassen: eine Zeremonie zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, Staats- und Regierungschefs der Welt marschieren in Stille, die letzten lebenden Überlebenden marschieren an ihrer Seite, und der Platz des Premierministers des Staates, der aus der Asche des Holocaust auferstanden ist, ist leer.
Er ist unbesetzt, weil sein Staat zum Paria geworden ist und weil er vom angesehensten Gericht, das Kriegsverbrecher verurteilt, gesucht wird.
Englisches Original: https://www.haaretz.com/opinion/2024-12-23/ty-article-opinion/.premium/from-auschwitz-to-gaza-with-a-stopover-in-the-hague/00000193-ea88-d17a-a193-fbe9f59b0000

5. Reporter Ohne Gremzen: Selbstzensur rund um Nahost-Berichterstattung
Die Auswirkungen des Konflikts reichen bis nach Deutschland: Medienschaffende, die sich mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen, sind physischen und verbalen Angriffen ausgesetzt. Vor allem Reporterinnen und Reporter, die das Leid der Palästinenser zeigen oder die israelische Kriegsführung beleuchten wollen, aber auch Medienschaffende, die über jüdisches Leben in Deutschland berichten, erleben ein angespanntes und feindseliges Arbeitsklima.  https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/selbstzensur-rund-um-nahost-berichterstattung

6. Die Süddeutsche Zeitung berichtet über Folterungen in israelischen Gefängnissen, die nach dem 7.10.2023 stark zugenommen haben.
Laut der is­rae­li­schen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Ha­mo­ked stieg die Zahl pa­läs­ti­nen­si­scher In­sas­sen zwi­schen Som­mer 2023 und Som­mer 2024 um mehr als 60 Pro­zent von rund 5000 auf fast 10 000. .. Bis zu 30 Ta­ge dür­fen Pa­läs­ti­nen­ser aus Ga­za seit­dem oh­ne Haft­be­fehl ein­ge­sperrt, bis zu 70 Ta­ge kann ih­nen der Zu­gang zu ei­nem An­walt ver­wehrt wer­den…. „Ver­wal­tungs­haft“ nennt die Bü­ro­kra­tie die­se Haft oh­ne ab­seh­ba­res En­de. Al­lein vom Som­mer 2023 bis Herbst 2024 hat sich die Zahl pa­läs­ti­nen­si­scher Ver­wal­tungs­häft­lin­ge laut Ha­mo­ked fast ver­drei­facht.
„Im­mer wie­der ster­ben Ge­fan­ge­ne. Wie vie­le Pa­läs­ti­nen­ser die Haft nicht über­le­ben ist un­klar. Von „min­des­tens 60“ sprach die is­rae­li­sche Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Be’Tse­lem be­reits im Au­gust. Of­fi­zi­el­le Zah­len feh­len, das is­rae­li­sche Mi­li­tär gibt kei­ne Da­ten her­aus,…“

Der Völ­ker­recht­ler Jo­chen von Bern­storff sagt: „Dass Is­ra­el dem In­ter­na­tio­na­len Ro­ten Kreuz ent­ge­gen üb­li­cher Pra­xis jeg­li­chen Zu­gang zu pa­läs­ti­nen­si­schen Ge­fan­ge­nen ver­wei­gert, zeigt, wie we­nig die Re­gie­rung der­zeit be­reit ist, un­ter den Gen­fer Ab­kom­men zu ko­ope­rie­ren.“  https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/866256/8

7. Human Rights Watch finds Israel guilty of extermination and ‘acts of genocide’
Human Rights Watch has issued a devastating report concluding Israel is committing the crimes of extermination and genocide in Gaza by focusing on one crucial issue: water.
https://mondoweiss.net/2024/12/human-rights-watch-finds-israel-guilty-of-extermination-and-acts-of-genocide/

8. die israelische Zeitung Haaretz am 18.12. (Link)
„Keine Zivilisten. Jeder ist ein Terrorist“: IDF-Soldaten enthüllen willkürliche Tötungen und zügellose Gesetzlosigkeit in Gazas Netzarim-Korridor
Von 200 Leichen wurden nur 10 als Hamas-Mitglieder bestätigt“: IDF-Soldaten, die in Gaza gedient haben, berichten gegenüber Haaretz, dass jeder, der eine imaginäre Linie im umkämpften Neztarim-Korridor überschreitet, erschossen wird, wobei jedes palästinensische Opfer als Terrorist gilt – selbst wenn es nur ein Kind war
Auszüge:
Der Netzarim-Korridor, ein sieben Kilometer breiter Streifen Land, erstreckt sich von der Nähe des Kibbutz Be’eri bis zur Mittelmeerküste. Die IDF hat dieses Gebiet von palästinensischen Bewohnern geräumt und ihre Häuser abgerissen, um Militärstraßen und Militärstellungen zu errichten.
„Der Divisionskommandeur hat dieses Gebiet als “Todeszone“ ausgewiesen. Jeder, der sie betritt, wird erschossen.“…
„Wir töten dort Zivilisten, die dann als Terroristen gezählt werden“, sagt er. „Die Verlautbarungen des IDF-Sprechers über die Opferzahlen haben dies in einen Wettbewerb zwischen den Einheiten verwandelt. Wenn die Division 99 150 [Menschen] tötet, strebt die nächste Einheit 200 an.
„Das Standardverfahren sieht vor, die Leichen zu fotografieren und Details zu sammeln, wenn dies möglich ist, und dann Beweise an den Geheimdienst zu schicken, um den Status der Kämpfer zu überprüfen oder zumindest zu bestätigen, dass sie von den IDF getötet wurden“, erklärt er. „Von diesen 200 Opfern wurden nur zehn als bekannte Hamas-Aktivisten bestätigt. Doch niemand hat die öffentliche Ankündigung, Hunderte von Kämpfern getötet zu haben, in Frage gestellt.“
Selbst die Soldaten, die die Hinterhalte besetzen, sagen, dass ihnen nicht immer klar war, wo diese Grenzen gezogen wurden. „Jeder, der sich der in diesem Moment beschlossenen Linie nähert, wird als Bedrohung angesehen – eine Erlaubnis zum Schießen ist nicht erforderlich.