Der Westen am Scheideweg zwischen Vernunft und Selbstzerstörung

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Der Völkermord in Gaza als Muster für westliches Versagen / Frieden ist nur durch die Herstellung gegenseitiger Sicherheit möglich / Das neue Buch von Fabian Scheidler

Eine Buchbesprechung von Arn Strohmeyer

Der Ukraine-Krieg, der Völkermord in Gaza, Israels Angriffe auf seine Nachbarstaaten, der US-Griff nach dem Öl Venezuelas und der Landmasse Grönlands, allgemeine Aufrüstung überall, in Deutschland Wirtschaftskrise, Deindustriealisierung und Abbau des Sozialstaates – die Lage ist mit dem Wort „ernst“ viel zu harmlos beschrieben, Chaos ist die treffendere Bezeichnung für den Zustand der Welt an der Jahreswende 2025/26.

Der deutsche Autor Fabian Scheidler charakterisiert die Situation in einem kürzlich erschienen und sehr bemerkenswerten Buch so: „Führende Politiker wirken zunehmend so, als seien sie aus einem Clowns-Workshop oder einer Nervenheilanstalt entlaufen. In dieser Situation erscheint der Krieg als einzige Möglichkeit, um den zerfallenden Westen noch zusammenzuhalten. Nur die Bedrohung durch einen monströsen Feind vermag den Bürgern noch so viel Angst einzujagen, dass sie bereit sind, sich hinter Politikern zu scharen, die in jeder Hinsicht gescheitert sind und für nichts mehr eine Lösung anzubieten haben.“

Und weiter: „Diese Situation erklärt auch zum Teil die Verbissenheit und Irrationalität, mit der führende westliche Staaten an den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten festhalten. Viele Beteiligte wissen längst, dass es dort kaum etwas zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren gibt, doch die Fortsetzung des Krieges erscheint als der einzige Weg, um den vollständigen Bankrott der politischen Klasse noch eine Weile hinauszuzögern. Das Chaos, das aus dieser Lage resultiert, ist ausgesprochen gefährlich, weil der Westen versucht sein kann, seine zunehmend prekäre Lage durch weitere militärische Eskalation zu retten.“

Was ja heißt: Der Ausnahmezustand ist inzwischen der Normalzustand, ja er ist im Westen zur Regierungsform geworden. Und dieser Zustand ist nicht als „Schicksal“ vom Himmel gefallen. Der Ausnahmezustand ist politisch gewollt, oft sogar bewusst herbeigeführt worden, weil er ein Mittel ist, die Kontrolle über das System aufrechtzuerhalten. Er wird eben zur Normalität, bewirkt aber, dass das Vertrauen in die Institutionen immer mehr untergraben wird, was wiederum zum Abbau demokratischer Rechte führt, um die Kontrolle weiter gewährleisten zu können. Ein Teufelskreis ohne Ende.

So entsteht als Folge auch eine Krise der Werte. Wenn Politiker im Westen Aufklärung, Demokratie als Staatsform, Völkerrecht und Menschenrechte als Ideale preisen, klingt das – nach dem Völkermord in Gaza – nur noch unglaubwürdig und hohl, eine heuchlerische Doppelmoral eben. Nähme man die stets so hoch gelobte Aufklärung im Sinne Kants wirklich ernst, dann hieße das ja, nach den Ursachen der Krisen suchen und mit diesem Ansatz eine Lösung anstreben zu wollen. Aber genau das geschieht nicht. Was der Westen betreibt, ist ein Rückfall in archaisches Denken.

Scheidler demonstriert an verschiedenen Beispielen, dass der Westen – unter der Führung der USA und der NATO – auf politische Krisensituationen nicht deeskalierend und mit diplomatischen Mitteln reagiert, sondern vornehmlich zur Gewalt greift, sie eskaliert und so das Chaos vergrößert statt es abzubauen. Alternative Handlungsmöglichkeiten werden in der Regel ausgeblendet. Dies ist das erste Muster von fünf, die der Autor anführt, das den krisenverschärfenden Reaktionen zu Grunde liegt. Die zweite Voraussetzung für die „Logik des Krieges“ ist die Lagerbildung: Es gibt nur noch „uns“, die Guten. Wer am großen „Wir“ zweifelt, gilt als Gegner, Verräter oder sogar als Feind. Das heißt: Kritik ist Verrat, differenzierendes Denken wird zum Tabu. Da muss die Informations- und Meinungsfreiheit natürlich auf der Strecke bleiben.

Das dritte Muster ist die Mythologisierung des Krieges. Dazu muss ein Feindbild geschaffen werden, dem man die ganze Schuld an Krisen und Kriegen zuschieben kann – eine Projektionsfläche also, auf die man Ängste, Wut und Hass umleiten kann: Putin und die Hamas sind gute Beispiele dafür. Dieser Feind wird jeweils propagandistisch als barbarisches Ungeheuer dargestellt und dämonisiert. Er ist die Inkarnation alles Bösen, dem unterstellt wird, dass es die Grundlagen der westlichen Zivilisation vernichten will.

Dieses Propagandaschema ist nicht neu, die Nazis haben es schon zu höchster Blüte entwickelt, indem sie den Bolschewisten unterstellten, die abendländische Kultur zerstören zu wollen, woraus sie die Berechtigung für ihren Vernichtungskrieg im Osten ableiteten. Gaza ist auch ein anschauliches und ähnliches Beispiel für diese Art von Propaganda. Der Autor schreibt: „Während die westlichen Führungsmächte Tag für Tag die massiven israelischen Kriegsverbrechen in Gaza militärisch unterstützen und diplomatisch absichern und dabei das Völkerrecht offen mit Füßen treten, behaupten sie im nächsten Atemzug, in der Ukraine alle denkbaren positiven Werte der Menschheit zu vertreten.“

Zu den Mustern der „Logik des Krieges“ gehört auch die Ausblendung der Vergangenheit im öffentlichen Diskurs. Wenn das Feindbild so klar ist, der Feind also das schlechthin Böse verkörpert, braucht man sich auch nicht mit der Vorgeschichte eines Konfliktes beschäftigen. Wer absolut böse ist, hat keine Geschichte. Es gibt da nur eine Schlussfolgerung: er muss vernichtet werden. Damit begibt man sich aber jeder Möglichkeit einer friedlichen Konfliktlösung, sie wird mit der Ausblendung und Tabuisierung der Vorgeschichte unmöglich.

Die Ukraine und Gaza sind auch für dieses Muster anschauliche Beispiele. Wer mit der Vorgeschichte des Krieges dort, also die NATO-Osterweiterung als Kriegsgrund, mit ins Spiel bringt, gilt als „Putin-Versteher“, „Verschwörungstheoretiker“ oder sogar als „Verräter“. Die Erwähnung der Vorgeschichte des 7. Oktober 2023 – also Jahrzehnte der Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser, Besatzung, die totale Blockade des Gazastreifens und die ständigen Bombardierungen mit Tausenden von Toten dort – wird umgehend mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontiert. Denn für Israels Verteidiger ist völlig klar: Die Hamas wollte mit ihrem „Pogrom“ den Auftakt zur Vernichtung Israels einleiten. Eine Vorgeschichte hatte der „Pogrom“ danach nicht.

Als weitere Muster der „Logik des Krieges“ beschreibt Scheidler den Opferkult und die Aufkündigung des Realitätsprinzips im politischen Diskurs. Opferkult: Wenn die Politik ohne jede Schattierung völlig auf den Gegensatz von Gut und Böse orientiert ist und eben jede Vorgeschichte politischer Ereignisse ausgeblendet wird, dann fehlen dem politischen Diskurs jede rationale Basis und jede unbedingt nötige Abwägung verschiedener möglicher Alternativen. Aktuelles Beispiel: Putin zwingt „uns“ dazu, den Staatshaushalt ganz auf Rüstung und Abbau des Sozialhaushaltes auszurichten. Die Opfer der daraufhin folgenden Kriege werden hingenommen genauso wie die Opferung sozialer und kultureller Errungenschaften.

Das Realitätsprinzip wird aufgegeben, wenn der Gegner bzw. der „Feind“ zum dämonischen Ungeheuer hochstilisiert wird, und der Kampf gegen ihn zum Endzeitkampf des Guten gegen das Böse erklärt wird. Dann verschwindet die Realität aus der politischen Wahrnehmung – ein überzeugendes Beispiel für Narzissmus in der Politik, den man nicht nur bei Donald Trump registrieren kann, sondern auch in der gesamten westlichen Politik. Der Narzisst und das narzisstische Kollektiv blenden die Realität nicht nur aus, sondern bekämpfen sie regelrecht, weil sie das Selbstbild gefährdet. Ein äußerst gefährlicher Vorgang, weil er zu irrationalen, destruktiven und selbstzerstörerischen Handlungen führen kann.

Der Autor widmet in diesem Zusammenhang dem Genozid in Gaza ein ganzes Kapitel, in dem er die aufgezählten „Muster der Kriegslogik“ an diesem Kriegsverbrechen aufzeigt. Er schreibt: „Die Vorgeschichte und die Konfliktursachen werden umgehend ausgeblendet. Israel setzte, unterstützt von den USA, Deutschland und anderen westlichen Staaten, auf ein einziges Mittel: schrankenlosen Krieg, ohne jede Rücksicht darauf, wie viele Opfer es kosten würde. (…) Das Ergebnis war ein Inferno, das die Dimensionen des Anschlages vom 7. Oktober um viele Größenordnungen übersteigt. Auf diese Weise wiederholte Israel das Muster der Reaktion des Westens auf den 11. September 2001 und ignorierte die verheerende Bilanz der Anti-Terror-Kriege, die den Terrorismus nicht überwunden, sondern vervielfacht haben.“

Und weiter: „Wie in den anderen hier untersuchten Fällen wurden die martialische Antwort und die Ablehnung von Diplomatie und Ursachenforschung damit begründet, dass es sich um einen Kampf der Zivilisation gegen eine Schar von Barbaren und Dämonen handele, die keine andere Sprache verstünden als Krieg. Der israelische Premier Benjamin Netanjahu sprach in einem inzwischen gelöschten Tweet von einem Kampf ‚zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis.‘ Deutlicher kann die Mythologisierung des Krieges nicht formuliert werden.“ Dass der Rache Ausübende, der das Böse vernichten will, selbst zum Bösen wird, wird dabei völlig übersehen.

Natürlich hatte der 7. Oktober eine Vorgeschichte, zu ihr gehört vor allem die lange Blockade des Streifens: „Wenn man Millionen Menschen jahrzehntelang einsperrt, ihnen elementare Rechte verwehrt, ihre Lebensbedingungen zur Hölle macht, jede Form von Protest, ob militant oder friedlich, gleichermaßen bestraft und unterdrückt und damit Ohnmacht und Wut schürt, dann erhöht man damit unweigerlich die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Kessel irgendwann explodieren wird. Und genau dies ist am 7. Oktober 2023 geschehen.“

Mit den aufgezählten Punkten der „Logik des Krieges“ kann Scheidler auch präzise die Krise des Westens sezieren: die Missachtung völkerrechtlicher Normen, die massive Einschränkung der Bürgerrechte und dabei besonders der Meinungsfreiheit (mit der Zunahme der Zensur), den Abbau des Sozialstaates und auch den Missbrauch des Gedenkens an den Holocaust. Denn für Deutschland hätte das Gedenken an diesen Genozid bedeuten müssen: an der Seite des Völkerrechts und der Opfer jeglicher Gewalt zu stehen, egal welcher Herkunft, Nationalität, Religion oder Hautfarbe sie sind. Aber Deutschland konzentrierte sein Gedenken auf einen Staat, der von Anfang an mit Gewalt geschaffen wurde, permanent weiter Gewalt ausübte und heute mit einer rechtsextremen Regierung Kriegsverbrechen gewaltigen Ausmaßes begeht.

Gaza kann dafür wieder als Beispiel dienen: Israel hat sich mit dem Genozid dort auf den Weg der Selbstzerstörung begeben. Denn mit dem Völkermord hat es den Ruf des Landes ruiniert, seiner Wirtschaft großen Schaden zugefügt und sich mit jedem Toten in Gaza neue Feinde geschaffen. Der Westen hat mit seiner Unterstützung Israels ein Beispiel gegeben, wie man Feinde bekämpft, die man selbst geschaffen hat und wie man die Sicherheit eines Landes, das man eigentlich schützen will, untergräbt. Und auch der Westen hat seinen Ruf ruiniert, die Berufung auf seine Werte ist zum blanken Hohn geworden.

Scheidler sieht mit Recht den Hauptgrund für die Krisen der Welt in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die wie der Kolonialismus auf permanente Expansion bedacht und darauf angelegt ist, sich beständig neue Territorien, Lebensbereiche und Naturräume einzuverleiben. Dabei begnügt sich der Kapitalismus nie mit etwas, er will stets alles haben: „Land, Ressourcen, Macht, Zivilisation und überhaupt alles Gute in der Welt.“ Man fühlt sich an die Analyse von Erich Fromm erinnert, der den Kapitalismus mit dem Prinzip des Habens (bzw. des ständigen Haben-Wollens) im Gegensatz zu einer menschlichen Ordnung des Seins beschrieben hat.

Wer denkt da nicht an Trump, der gerade Anspruch auf Grönland, den Panama-Kanal und das Öl Venezuelas erhebt. Kanada hat er auch schon im Blick. Von Israel ganz zu schweigen, das das Land mit den Palästinensern nicht teilen, sondern das ganze Palästina (und noch mehr), also alles haben will. Aber dieses Alles-Haben-Wollen ist nur mit Gewalt, also Krieg möglich. Die Erzeugung von Angst durch Krisen und Kriege ist die notwenige Folge dieser Gier und wird dann zum Normalzustand, um die Gesellschaften ruhig zu halten und kontrollieren zu können.

Der Autor hat mit seinem Buch eine gelungene Analyse der gegenwärtigen Situation geliefert, aber sie wäre unvollständig, wenn er nicht auch Lösungsmöglichkeiten anbieten würde. Das von ihm Vorgebrachte bleibt im Rahmen des bisher schon von Anderen Gesagten und Geforderten, ist aber von einer alternativlosen Vernunft getragen: Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten können nur beendet werden, wenn ihre Ursachen erkannt und öffentlich ausgesprochen werden. Außerdem muss eine dem Völkerrecht und den Menschenrechten entsprechende Friedensordnung aufgebaut werden, die die Sicherheitsinteressen nicht nur einer Seite, sondern immer beider bzw. aller Seiten eines Konflikts berücksichtigt. Sicherheit muss immer auf Gegenseitigkeit beruhen.

Diese Maxime gilt universalistisch für die Lösung aller Konflikte zwischen Staaten auf dieser Welt. Der Ukraine-Krieg hat bewiesen, in welche Katastrophe man gerät, wenn man das nicht tut – das heißt, Russlands Sicherheitsinteressen durch die geplante NATO-Osterweiterung einfach ignoriert hat. Die deutsche Politik hat sich da besonders hervorgetan, indem sie jedes notwendige Verstehen-Wollen der Politik der anderen Seite zum staatsfeindlichen Delikt erklärt hat. „Putin-Versteher“ werden an den Pranger gestellt wie arme Sünder im Mittelalter. Wobei völlig übersehen wird, dass man Frieden nur schaffen kann, wenn man die gegnerische Seite versteht, also die Welt auch durch die Augen des Anderen sieht. Verstehen kann aber nicht heißen, sich mit der gegnerischen Position zu identifizieren. Analyse ist nicht Legitimation.

Zum Frieden auf der Erde gehört aber auch, darauf weist der Autor immer wieder hin, der Frieden mit der Erde. Das heißt, dass die internationale Politik sich vorrangig der Lösung von zwei Problemen widmen muss: der Herstellung von Frieden unter den Staaten und der ökologischen Rettung des Planeten. Alle anderen Probleme schrumpfen verglichen mit diesen beiden Herausforderungen zu Problemen niederen Ranges. In politische Sprache übersetzt heißt das: Abrüsten und nicht aufrüsten, soziale Gerechtigkeit für alle schaffen, die schon erreichten sozialen Errungenschaften bewahren und eine ökologische Weltordnung schaffen, die mit den Naturgesetzen des Planeten im Einklang steht. So oder ähnlich hatte es schon der alte Karl Marx formuliert, der offenbar doch nicht ganz Unrecht hatte.

Ich habe in der letzten Zeit keine bessere Analyse unserer von selbst gemachten Krisen und Kriegen bedrohten Welt gelesen. In der neuen, von Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der Zunahme von Zensur beherrschten McCarthy-Welt freut man sich, dass es solche couragierten Autoren noch gibt.

Fabian Scheidler: Friedenstüchtig. Wie wir aufhören können, unsere Feinde selbst zu schaffen, Promedia Verlag Wien, ISBN 978-3-85371-549-9, 20 Euro (Link)

25.12.2025

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