MdBB Arno Gottschalk zu Raketenenthusiasten

Tweet von MdBB Arno Gottschalk (SPD) zum Thema – wegen des grundsätzlichen Interesses dokumentieren wir hier. Das Original auf X ist hier verlinkt (Link)

 
„Herr Hein (@aufmacher), den ich als einen Schreiber für BILD kennen gelernt habe, folgt mir bereits seit Längerem – wobei aggressives Stalken, zumindest nach meinem Empfinden, wohl die angemessenere Beschreibung wäre. Normalerweise ignoriere ich ihn. Da wir bei den neuen Mittelstreckenraketen am Beginn einer Diskussion stehen, bei der ich noch manche unsachlichen Anwürfe erwarte, nehme ich seinen Tweet aber zum Anlass für eine ausführlichere Entgegnung und Darstellung.

1. Ich befasse mich mittlerweile seit mehr als 40 Jahren mit Fragen von Militär und Rüstung, Krieg und Frieden. Anfänglich sehr intensiv, zwischenzeitlich weniger, zuletzt wieder mehr. Ich habe mich dabei schon für eine (gänzlich) atomwaffenfreie Zone in Europa eingesetzt, als noch niemand im Entferntesten daran dachte, dass es so etwas wie X / Twitter einmal geben würde.

2. Ich war deshalb auch sehr froh, als sich Reagan und Gorbatschow 1987 in der Tau-Phase des Kalten Krieges darauf einigten, mit dem INF-Vertrag die – im Hinblick auf Fehler und Fehleinschätzungen – gefährlichste atomare Waffenart, die Mittelstrecken, gänzlich abzuschaffen – und zwar sowohl für die Strecken 500 – 1.000 km als auch von 1.000 bis 5.000 km.

3. Als Russland 2016 (im Manöver) bzw. 2018 die Stationierung nuklearfähiger Iskander-Raketen in der Enklave Kaliningrad einräumte, fand ich das bedenklich, war aber nicht alarmiert. Laut den Zeitungsberichten überschritt die Reichweite nicht die verbotenen 500 km. (Quelle)
Die Raketen konnten zwar Warschau und Berlin erreichen. In Deutschland lagerten zur Abschreckung aber auch Atombomben. Schon damals aber wurde auch klar, dass der russische Stationierungsschritt in Verbindung stand zu einem von den USA in Rumänien installierten (und für Polen geplanten) Raketenabwehr, das von Russland nicht als Verteidigungssystem angesehen wurde.(Quelle)
Dass Russland auf die (damals noch geplante) Raketenabwehr mit der Stationierung von Raketen in Kaliningrad antworten werde, wurde bereits 2008 angedroht. Gleichzeitig wurde eine Nulllösung angeboten: keine US-Raketenabwehr, keine Iskander in Kaliningrad. Verteidigung: Russland schlägt „Null-Lösung“ für Raketenstationierung vor (Quelle) Dieses Angebot wurde von den USA nicht aufgenommen.

4. 2018 entschieden sich die USA dann unter Trump überraschend dafür, den INF-Vertrag in 2019 auslaufen zu lassen. Begründet wurde dies mit dem Vorwurf, Russland habe Iskander-Raketen mit größerer Reichweite entwickelt. Eindeutige Beweise dafür gab es nicht. Von der Bundesregierung, die von Trumps Entscheidung kalt erwischt, wurde noch der Versuch unternommen, den Vertrag zu retten.(Quelle)  Nach dem vergeblichen Bemühen drehten die Europäer dann bei und stellten sich hinter die Kündigung, offenbar um die ohnehin strapazierten Beziehung zum unberechenbaren Trump nicht weiter zu belasten. Im August 2019, wenige Tage nach dem Auslaufen des INF-Vertrages führten die USA einen ersten Test mit einem Marschflugkörper mit 1.000 km Reichweite durch.(Quelle

5. Im Oktober 2020 wurde von russischer Seite ein gemeinsames Verifizierungsverfahren vorgeschlagen: für die Iskander 9M729 in der Kaliningrad-Region, die nach US-Vorwürfen größere Reichweiten als 500 km haben soll; und für Aegis Ashore Raketenabwehrsystem in Rumänien, bei dem Russland speziell den Launcher K-41 als potentielle Startvorrichtung für Angriffsraketen sieht.(Quelle)  Auch dieser Vorschlag wurde von den USA nicht aufgegriffen.

6. Die russische Seite behauptet bis in die jüngste Zeit, dass sie sich an die Bestimmungen des INF-Vertrages gehalten habe und weiterhin halten werde, so lange von den USA keine gegenteiligen Schritte unternommen würden. 7. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), das wichtigste sicherheitspolitische Beratungsinstitut der Bundesregierung, schrieb noch 2023, dass „ seit mehreren Jahren darüber spekuliert werde, dass die Reichweite… (von Iskander M )..über 500 km hinausgeht“. Offenbar hatten das Institut und die Bundesregierung keinen Beleg dafür. In dem selben Aufsatz heisst es, dass das einzige russische System, dass einer ballistischen Mittelstreckenrakete gleicht, die Kinschal-Rakete mit einer Reichweite von etwa 1.500 bis 2.000 km sei.(Quelle)

8. Die Kinschal wird von einem Flugzeug gestartet und ist damit eine luftgestützte Rakete, die ebenso wie die seegestützten Raketen nicht dem INF-Vertrag unterlagen.

9. Fazit: Es gibt bislang zwar westliche, vornehmlich amerikanische Behauptungen, dass Russland mit der Iskander 9M729 den INF-Vertrag verletzt habe und Raketen im Mittelstreckenbereich besitze. Selbst die SWP (siehe 7.) spricht aber von Spekulationen. Russische Angebote für Verifizierungsmaßnahmen vor Ort wurden von den USA nicht aufgegriffen.

10. Mit der geplanten Aufstellungen amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland werden auf jeden Fall Gegenmaßnahmen von russischer Seite erfolgen. Im Ergebnis würde dadurch wieder die gefährliche Situation entstehen, die mit dem INF-Vertrag überwunden werden sollte und der deshalb gerade den Deutschen und Europäern so besonders am Herzen lag.

11. Aktuell ist zwar nur von „konventionellen“ Systemen die Rede. Es ist aber zum einen unklar, ob und mit welchem Aufwand die Raketen auch mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden können. Wenn das bei russischen Raketen möglich ist, wird das auf hiesiger Seite kaum anders sein. Unklar ist deshalb auch, ob dies alleine eine amerikanische Entscheidung sein könnte oder Deutschland ein Mitsprache- und Kontrollrecht haben soll. Zum anderen ist es natürlich nicht zwingend, dass Russland ebenfalls mit konventionellen Raketen reagieren würde. Obendrein würden sich beide Seiten ohne Konsultationsmaßnahmen nicht gegenseitig trauen, dass die Gegenseite auf nukleare Sprengköpfe verzichtet.

12. Mit der Stationierung würde es daher auch wahrscheinlicher, dass aus konventionell schnell nuklear wird. Jenseits der Frage, wie genau die Einsatzdoktrinen dieser Mittelstreckenwaffen aussehen würden, entstände dann wieder das grundlegende Kardinalproblem: aufgrund der kurzen Strecken und Flugzeiten steigt nicht nur das Risiko, überrascht zu werden, sondern genau deshalb auch das Risiko, aufgrund von Fehlern und Fehlwahrnehmungen eine Katastrophe auszulösen.

13. Wie es aussieht, sollen die neuen Mittelstreckenraketen nur in Deutschland stationiert werden. Es handelt sich offenbar nicht um eine Bündnisentscheidung der NATO-, sondern um eine rein bilaterale Abmachung zwischen den USA und Deutschland. Aufgrund der absehbaren Gegenmaßnahmen sind Raketen immer auch Magneten – und warum sich Deutschland allein dieser Gefahr aussetzen soll und will, ist für mich nicht nachvollziehbar.

14. Wer die jetzigen Pläne mit der Nachrüstung in den 1980er Jahren vergleicht, sollte beachten, dass es aktuell keinen „Doppelbeschluss“ gibt, wonach die Stationierung unter bestimmten Bedingungen, die die Gegenseite erfüllen soll, rückgängig gemacht werden soll.

15. Bei den in Deutschland lagernden Atombomben versucht Deutschland seit langem vergeblich, eine Mitentscheidungsregelung zu erhalten. Ob dies bei den Mittelstreckenraketen anders sein soll, gehört ebenfalls zu den ungeklärten Fragen. Wer angesichts dieser Hintergründe, potentiellen Risiken und offenen Fragen die geplante Stationierung ohne Wenn und Aber begrüßt und Kritiker schmäht, sollte deshalb nochmals in sich gehen und seine Denkbegabung nutzen.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir freuen uns über Kommentare, wenn Sie die üblichen Höflichkeitsregeln beachten.
Bitte fügen Sie in Ihren Text keine Links auf andere Webseiten oder ähnliches ein, da wir diese nicht veröffentlichen können. Ein Bezug zum kommentierten Beitrag sollte auch erkennbar sein... 😉