Forensic Architecture (Link) hat in einem kurzen Film den Genozid in Gaza aus kartographischer Sicht dokumentiert. Das Video in deutscher Übersetzung finden Sie hier.
Der Spiegel berichtet in einem Artikel vom 21.12.2024 über Perspektiven jüdischer Siedler:innen und die Situation in Gaza: In einem Jahr leben wir in Gaza (Link zum Artikel, hinter einer Bezahlschranke)
Wir dokumentieren wesentliche Inhalte des Artikels, hier die Kurzfassung:
Der Artikel des SPIEGEL beschreibt die aktuelle Situation im Gazastreifen, wo die israelische Armee systematisch Städte zerstört und die Bevölkerung vertreibt, um eine Militärbesatzung und möglicherweise neue jüdische Siedlungen zu etablieren. Die Stimmung in Israel, insbesondere bei Siedleraktivisten, ist optimistisch hinsichtlich der Rückkehr nach Gaza nach dem Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober 2023. Währenddessen leiden die verbliebenen Palästinenser unter ständigen Bombardierungen, Nahrungsmangel und Vertreibung. Experten warnen vor einer ethnischen Säuberung und einer langfristigen Landnahme durch Israel. Die humanitäre Lage ist katastrophal, und internationale Hilfsorganisationen warnen vor einer apokalyptischen Situation. Der Artikel verdeutlicht die komplexen historischen und politischen Hintergründe, die zu dieser Eskalation geführt haben, und die Ambitionen von Siedlern, Gaza wieder zu kolonisieren.
Mehr Einzelheiten aus dem Artikel hier:
„In einem Jahr leben wir in Gaza“
Der Artikel beschreibt die systematische Zerstörung von Städten im Norden des Gazastreifens durch die israelische Armee und die Vertreibung der dortigen Bevölkerung. Recherchen des SPIEGEL deuten darauf hin, dass diese Maßnahmen nicht nur der aktuellen militärischen Kontrolle dienen, sondern langfristig den Boden für eine mögliche Besatzung und den Bau neuer jüdischer Siedlungen bereiten könnten.
Von einem Hügel in der israelischen Stadt Sderot aus nutzen Besucher ein Fernglas, um die Zerstörungen im Gazastreifen zu betrachten. Diese makabre „Attraktion“ wird fast wie ein Freizeiterlebnis behandelt: Menschen loben in Online-Rezensionen die Sitzgelegenheiten und den bequemen Zugang. Vor Ort herrscht eine heitere Stimmung, Familien und Paare beobachten den Krieg, Kinder spielen, und einige jubeln, wenn Explosionen zu sehen sind. Die Szene ist grotesk: Während die Region Gaza in Schutt und Asche gelegt wird, scheint die Tragödie für manche Beobachter eher wie eine Unterhaltung oder gar eine Gelegenheit zur Freude.
Ein Beispiel dafür ist Hadar Fenton, die mit ihren vier Töchtern das Geschehen durch das Fernglas beobachtet. Sie jubelt bei den Explosionen und betrachtet die Zerstörung nicht als menschliches Leid, sondern als Chance für eine Zukunft, in der die zerstörten Gebiete von Juden besiedelt werden könnten. In ihrer Sichtweise verkörpert sich die Hoffnung auf eine neue Besiedlung der vollständig verwüsteten Städte Beit Lahija und Beit Hanun, die mittlerweile fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht sind.
Der Bericht wirft damit ein beunruhigendes Licht auf die Wahrnehmung des Krieges durch Teile der israelischen Zivilbevölkerung und zeigt, wie tiefgreifend der Konflikt in die gesellschaftlichen Haltungen eingebettet ist.
Der Terrorangriff als Großchance für Israel
Der Text beschreibt die Haltung von Hadar Fenton, einer strenggläubigen jüdischen Mutter, die überzeugt ist, dass Gaza ein Teil des von Gott versprochenen Landes Israel sei. Fenton, die in Aschkelon lebt, träumt von einer jüdischen Siedlung auf den Trümmern von Beit Hanun, die sie „Jischai“ nennen möchte – Gottes Geschenk. Ihre Vision steht in der Tradition der israelischen Siedlungen, die vor fast 20 Jahren aus Gaza geräumt wurden.
Nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023, bei dem über 1.200 Menschen getötet und mehr als 250 entführt wurden, entstand eine Bewegung, die die erneute Besiedlung Gazas durch Juden fordert. Fenton sieht in diesem Ereignis eine „göttliche Möglichkeit“, das Land zurückzuerlangen und den Terror zu stoppen. Auf die Frage nach Mitleid mit den Menschen in Gaza entgegnet sie, die Palästinenser könnten fliehen und anderswo ein besseres Leben führen, beispielsweise in Europa, Kanada oder Ägypten.
Lange Zeit galten solche Pläne als extremistisch und unrealistisch. Selbst Premierminister Netanyahu hatte wiederholt erklärt, eine permanente Besetzung Gazas oder eine Vertreibung der Bevölkerung sei nicht beabsichtigt. Doch nach den massiven Zerstörungen, Vertreibungen und hohen Opferzahlen – mehr als 45.000 Tote und Millionen Vertriebene – scheint die Möglichkeit einer erneuten Besiedlung des Gazastreifens zunehmend realistisch. De facto hat dieser Prozess mit der systematischen Zerstörung und der militärischen Kontrolle bereits begonnen. Der Text wirft so ein düsteres Licht auf die geopolitischen Entwicklungen und die Vision einer künftigen Besiedlung Gazas.
Eroberung, Annexion und ethnische Säuberung
Der Text schildert, wie nach Erkenntnissen des SPIEGEL und durch Gespräche mit Experten deutlich wird, dass die israelische Armee im Gazastreifen nicht primär zur Geiselbefreiung und Zerschlagung der Hamas operiert, sondern eine dauerhafte Besatzung und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Nordgaza verfolgt. Ziel ist offenbar, das bewohnte Gebiet zu verkleinern und langfristig israelische Siedlungen zu errichten. Diese Strategie wird unabhängig von möglichen Waffenruhen vorangetrieben.
Der ehemalige israelische General Moshe Ya’alon, einst Armeechef und Verteidigungsminister unter Netanyahu, äußerte sich scharf kritisch. Er bezeichnete die aktuelle Entwicklung als Annexion und ethnische Säuberung, die Israel in einen „korrupten, faschistischen, messianischen Staat“ zu verwandeln drohe. Ya’alon, der 2014 für den damaligen brutalen Gazakrieg verantwortlich war, sieht jetzt die Zerstörung ganzer Städte wie Beit Lahija, Beit Hanun und Dschabalia als bewusste „Säuberung“ von Palästinensern.
Eyal Weizman, Architekt und Gründer von Forensic Architecture, bestätigt diese systematische Zerstörung. Mithilfe von Satellitendaten analysiert sein Team die Kriegsführung. Laut Weizman zeigt das Vorgehen der israelischen Armee ein klares Muster: Nicht nur Wohnhäuser, sondern auch landwirtschaftliche und kulturelle Infrastrukturen wie Felder, Brunnen und Kläranlagen werden gezielt zerstört, um eine Rückkehr der Palästinenser zu verhindern. Für ihn ist dies eine Parallele zu den Ereignissen von 1948, als Hunderttausende Palästinenser aus dem heutigen Israel vertrieben und ihre Dörfer zerstört wurden. Viele der damals Geflohenen fanden Zuflucht in Gaza. Heute erleben deren Nachkommen eine ähnliche Fluchtgeschichte.
Weizman betont, dass das Verständnis für die aktuellen Vorgänge eine Betrachtung der Vergangenheit erfordert, da die Geschichte sich in ihrer Dynamik und Konsequenz wiederhole.
Vertreibung im den Süden
Der Text beleuchtet die historische und geografische Bedeutung des Wadi Gaza als Südgrenze Palästinas und wie diese Grenze erneut eine zentrale Rolle im aktuellen Konflikt spielt. Bereits im 19. Jahrhundert zogen europäische Kolonialmächte die Südgrenze entlang des Flussbetts, das Regenwasser aus Hebron ins Mittelmeer führt. Während des Ersten Weltkriegs war Wadi Gaza ein Schlachtfeld zwischen Osmanen und Briten. Seit der Gründung Israels 1948 wurde das Gebiet südlich davon in mehreren Kriegen genutzt, um Palästinenser dorthin zu vertreiben – ein Muster, das sich laut Eyal Weizman nun wiederholt.
Weizman, Architekt und Experte für Raum- und Konfliktanalyse, erklärt, dass die Bedeutung von Wadi Gaza auch im Klima liegt: Nördlich ist das Land fruchtbarer, während südlich davon die Wüste beginnt. Diese geografische Besonderheit macht Wadi Gaza zu einem strategischen Punkt und erklärt, warum Israel nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 die Evakuierung aller Bewohner nördlich des Wadis befahl. Ziel könnte gewesen sein, die Palästinenser weiter nach Süden zu drängen oder sie dazu zu bringen, die Grenze nach Ägypten zu überqueren.
Einen Monat später zerschnitt die israelische Armee den Gazastreifen entlang des Wadi Gaza und errichtete Checkpoints an den Hauptstraßen von Nord nach Süd. Dadurch wurde die Rückkehr der Vertriebenen in den Norden verhindert. Infolge dieser Maßnahmen leben die meisten Palästinenser nun auf einem immer kleiner werdenden Gebiet im Südwesten des Gazastreifens unter katastrophalen Bedingungen, oft in Zelten oder improvisierten Unterkünften.
Weizman vermutet, dass die Strategie darin besteht, die Palästinenser vollständig aus Nordgaza zu vertreiben. Das Gebiet könnte dann dauerhaft von Israel militärisch besetzt werden, mit der Perspektive, dort langfristig israelische Siedlungen zu errichten. Der Text unterstreicht die systematische Vorgehensweise Israels und die fortgesetzte Verdrängung der Palästinenser unter Berufung auf geografische und strategische Überlegungen.
Ständige Bombardierungen
Der Text zeichnet ein eindringliches Bild der dramatischen Lebensrealität von Mohammed Kilani, einem palästinensischen Rechtsanwalt aus Beit Lahija, der mit seiner Familie ums Überleben kämpft. Kilani, 38 Jahre alt und Vater von drei kleinen Töchtern, hat sein Zuhause und seinen gesamten Besitz im Krieg verloren. Seit Beginn des Konflikts musste die Familie achtmal von einer Notunterkunft zur nächsten fliehen, immer auf der Suche nach Sicherheit, die es nirgendwo gibt.
Kilani berichtet Anfang Dezember, dass sie nur gelegentlich Zugang zum Internet haben und sein Handy mit Solarzellen laden müssen. Die Versorgungslage sei katastrophal: Es fehlt an Wasser, Nahrung, Medikamenten sowie grundlegenden Dingen wie Windeln und Milch für die Kinder. Fleisch und Gemüse sind unerreichbar, und die Familie musste zeitweise sogar Tierfutter essen, um zu überleben. Trotzdem blieben sie im Norden, da es dort nicht unsicherer sei als anderswo.
Die Situation verschärfte sich besonders drastisch in den letzten zwei Monaten. Seit Oktober 2024 hat die israelische Armee die Städte Beit Hanun, Beit Lahija und Teile von Dschabalia abgeriegelt. Fast keine Lebensmittel, kein Wasser und kein Treibstoff erreichen die Gebiete mehr. Tausende Menschen sind geflohen, doch laut UN-Schätzungen könnten immer noch bis zu 75.000 Menschen im Norden ausharren – unter unerträglichen Bedingungen.
Der Text kontrastiert die Hoffnung von Siedlern wie Hadar Fenton, die sich ein neues Leben in Gaza vorstellen, mit der existenziellen Not der palästinensischen Bevölkerung. Er zeigt, wie der Krieg nicht nur physische Zerstörung, sondern auch humanitäres Leid und Vertreibung in unvorstellbarem Ausmaß verursacht.
Nordgaza ist eine Trümmerlandschaft
Die Schilderungen von Mohammed Kilani, einem palästinensischen Rechtsanwalt aus Beit Lahija, verdeutlichen das extreme Leid und die Gewalt, denen die Zivilbevölkerung in Nordgaza ausgesetzt ist. Tag und Nacht wird das Gebiet von israelischen Kampfjets, Drohnen und Artillerie bombardiert. Laut Kilani gibt es Verhaftungen, Durchsuchungen, brennende Unterkünfte und willkürliche Zerstörungen durch Bulldozer. Die Straßen sind so gefährlich, dass jede Bewegung tödlich enden kann.
Kilani beschreibt, wie seine Heimatstadt Beit Lahija, wo er sein ganzes Leben verbracht hat, nur noch ein Trümmerfeld ist: „Alles, was man sieht, ist Schutt.“ Besonders eindrücklich schildert er die Bombardierung eines Hauses Ende November, in dem sich zahlreiche Zivilisten befanden. Nach dem Angriff grub Kilani mit bloßen Händen nach Verschütteten, während er und andere Helfer unter Beschuss der israelischen Armee standen. Sie konnten eine verletzte Frau retten, doch beim Abtransport auf einem Eselskarren wurde der Wagen von der Armee angegriffen, wodurch die Frau, ihr Sohn und weitere Personen getötet wurden. Kilani beschreibt dies als eine Szene, die ihn für immer verfolgen wird. Fotos, die er dem SPIEGEL schickt, zeigen grausame Details: einen toten Esel mit zerfetztem Kopf, in Decken eingewickelte Tote und einen abgerissenen Arm.
Ähnliche Bombardierungen sind laut Berichten des palästinensischen Zivilschutzes fast täglich Realität in Nordgaza. Seit Anfang Oktober 2024 sollen mehr als 2700 Menschen in diesem Gebiet getötet und über 10.000 verletzt worden sein. Die Zahlen und Kilanis Erzählungen zeichnen ein Bild von massiver Gewalt, die das Leben der verbliebenen Zivilbevölkerung nahezu unmöglich macht und deren humanitäre Lage unerträglich ist.
Hunde fressen Leichen
Die humanitäre Situation in Nordgaza hat katastrophale Ausmaße erreicht. Laut Mohammed Kilani und anderen palästinensischen Zeugen ist die medizinische Versorgung praktisch zusammengebrochen. Das einzige halbwegs funktionierende Krankenhaus in Nordgaza wurde mehrfach von der israelischen Armee angegriffen, durchsucht und schließlich weitgehend unbrauchbar gemacht. Dabei wurden sowohl Patienten als auch medizinisches Personal verhaftet oder vertrieben.
Die Toten können kaum würdevoll bestattet werden. Viele Leichen müssen direkt an Ort und Stelle ohne Leichentuch oder Grabstein begraben werden, wenn dies überhaupt möglich ist. Oft bleiben sie unter den Trümmern der zerstörten Gebäude zurück, wo sie teils von Hunden angefressen werden – ein grausames Bild des völligen Zusammenbruchs der Lebensumstände.
Kilani und andere Palästinenser berichten zudem, dass die israelische Armee gezielt Wohnhäuser angreift, offenbar mit dem Ziel, die verbliebenen Bewohner aus Nordgaza zu vertreiben. Auch Notunterkünfte werden laut diesen Aussagen nicht verschont, was die Notlage der Zivilbevölkerung weiter verschärft. Diese gezielten Angriffe verstärken den Eindruck, dass es sich um eine systematische Strategie handelt, um die Region dauerhaft zu entvölkern.
Immer wieder werden Schulen angegriffen
Die Abu-Tamam-Schule in Beit Lahija, eine der letzten Notunterkünfte für Tausende Schutzsuchende, wurde am 4. Dezember 2024 zum Schauplatz einer brutalen Vertreibungskampagne. Laut Mohammed Kilani, der sich mit seiner Familie dorthin geflüchtet hatte, war die Situation zunächst prekär, eskalierte jedoch dramatisch, als die israelische Armee Zettel abwarf, die zur Evakuierung aufriefen. Kurz darauf wurde die Umgebung der Schule bombardiert, wobei mindestens 50 Menschen verletzt wurden. Quadrokopter-Drohnen forderten die verbliebenen Menschen über Lautsprecher erneut zur Flucht auf, drohten mit weiteren Angriffen und schossen auf Personen, die sich außerhalb der Schule bewegten. Die Panik, so Kilani, war unbeschreiblich: „Es war wie der Tag des Jüngsten Gerichts.“
Kilani entschied, seine Familie nach Gaza-Stadt zu schicken, während er selbst zurückblieb, aus Angst, an einem der israelischen Checkpoints verhaftet oder misshandelt zu werden. Es wird geschätzt, dass Israel seit Beginn des Krieges Tausende Männer im Gazastreifen verhaftet hat, von denen viele in Lagern festgehalten und gefoltert werden. Kilani beschreibt, wie er nun unter widrigsten Umständen überlebt – in Schulen, leer stehenden Häusern oder sogar auf der Straße. „Was hier passiert, ist mehr als nur eine ethnische Säuberung“, sagt er. „Es gibt kein Wort, das beschreibt, was hier mit uns geschieht – sie töten und vertreiben uns, und zugleich hungern sie uns aus.“
Die Abu-Tamam-Schule war nicht die einzige Zielscheibe an diesem Tag. Aus zwei weiteren Schulen in Beit Lahija wurden Schutzsuchende vertrieben, insgesamt etwa 5500 Menschen, wie die UNO berichtet. Unter ihnen befand sich auch Mohamed Masri, ein 36-jähriger Universitätsdozent, der mit seiner Frau und zwei Kindern geflohen war. Masri beschreibt den beschwerlichen Weg zu einem israelischen Checkpoint, den die Menschen auf Anweisung der Armee zurücklegten. Alte Menschen, Menschen in Rollstühlen und Verletzte kämpften sich über zerbombte Straßen, während Beit Lahija einer verwüsteten Landschaft glich. „Es sah aus, als hätte es ein schweres Erdbeben gegeben“, berichtet Masri.
Diese Berichte verdeutlichen die brutalen Umstände, unter denen die palästinensische Bevölkerung in Nordgaza gezwungen wird, ihre Heimat zu verlassen, und die systematische Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen.
Kilometerlanger Marsch in Todesangst
Der Text beschreibt die dramatischen und schwierigen Erfahrungen von Menschen, die an einem Checkpoint auf dem Weg nach Gaza-Stadt festgehalten wurden. Masri, ein Universitätsdozent, schildert, dass sie stundenlang bis zur Dunkelheit warten mussten, während sie von jungen, bewaffneten Männern bewacht und beschimpft wurden. Alle Männer wurden von ihren Familien getrennt, während Frauen und Kinder den langen Marsch nach Gaza-Stadt alleine bewältigen mussten. Eine 70-jährige Frau berichtet, dass sie einen Großteil ihres Gepäcks zurücklassen musste, da sie es nicht mehr tragen konnte. Zudem wurden die Menschen durch Schüsse der Soldaten in Angst versetzt, was zu Berichten über möglicherweise tödliche Vorfälle führte, für die es jedoch keine Beweise gab.
Die Männer mussten in Gruppen von fünf vor eine Kamera treten, die mit Gesichtserkennungssoftware verbunden war, und wurden befragt. Verdächtige Personen wurden in sogenannte „Baracken“ abgeführt. Masri beschreibt, dass die Schreie der misshandelten Männer zu hören waren und dass diejenigen, die sich weigerten, zu den Baracken zu gehen, geschlagen wurden. Nach etwa zehn Stunden durfte Masri schließlich den Checkpoint passieren, wo er selbst von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen wurde. Während des Passierens des Checkpoints wurden sie aus einer Entfernung von zehn Metern beschossen, wobei einige Männer verletzt wurden.
Als Masri schließlich in Gaza-Stadt ankam, fand er keinen sicheren Ort zum Schlafen und musste auf der Straße übernachten. Erst am nächsten Morgen gelang es ihm, seine Familie wiederzufinden. Er berichtet, dass sie unter freiem Himmel leben müssen, da es kaum Unterkünfte und Zelte gibt. Besonders die Kinder leiden unter Hunger und Kälte. Erst einige Tage später gelingt es der Familie, ein Zelt zu finden. Der Text vermittelt ein eindringliches Bild von den humanitären Herausforderungen und dem Leid der Menschen in dieser Krisensituation.
Erinnerungen an die Nakba
In Gaza-Stadt haben Hamdiya und Jamila Abou Ouda, eine Schwiegertochter und ihre Schwiegermutter, Zuflucht in einer überfüllten Schule gefunden. Die beiden Frauen, die zuvor in einem geräumigen Haus in Beit Hanun lebten, sind nun in einer verzweifelten Lage. Hamdiya kümmert sich um die 95-jährige Jamila, die gesundheitlich angeschlagen ist. Sie erinnert sich an die bessere Zeit, als sie einen Dachgarten mit Rosen, Knoblauch und Auberginen pflegte und sogar Tauben und Hasen hielt. Diese Erinnerungen werden von der Angst überschattet, nie wieder in ihr Heimathaus zurückkehren zu können, was sie als eine Art zweite Nakba empfinden – ein Verweis auf die Vertreibungen von 1948.
Jamila, die die ursprüngliche Nakba selbst erlebt hat, vergleicht die damaligen Ereignisse mit der gegenwärtigen Situation und beschreibt den aktuellen Krieg als noch schlimmer und zerstörerischer. Sie berichtet, dass die Israelis damals barmherziger waren und den Palästinensern Nahrung gaben. Hamdiya hingegen hat große Angst, dass sie, wie ihre Schwiegermutter, nicht die Kraft haben wird, ihr Leben neu zu beginnen, falls sie ihr Zuhause endgültig verlieren sollte.
Die Schilderungen der beiden Frauen und anderer Palästinenser, mit denen der SPIEGEL gesprochen hat, spiegeln die verzweifelte Lage der Zivilbevölkerung wider. Diese Berichte können zwar nicht im Detail belegt werden, stimmen aber mit den Aussagen anderer Gesprächspartner sowie internationalen Helfern überein. Die israelische Armee rechtfertigt ihre militärischen Aktionen in Nordgaza, indem sie angibt, gegen Terroristen und deren Infrastruktur vorzugehen. Sie betont, dass nur militärische Ziele angegriffen werden und die Zivilbevölkerung zur Evakuierung aufgefordert wurde, um sie zu schützen. Zudem wird erwähnt, dass mögliche Fehlverhalten bei Festnahmen und Verhören untersucht werden und Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden könnten, falls nötig.
Insgesamt zeigt der Text die menschlichen Tragödien und Ängste der Menschen im Gazastreifen auf, die durch den anhaltenden Konflikt und die damit verbundenen Zerstörungen geprägt sind.
Die Warnungen der Helfer werden immer verzweifelter
Die Britin Louise Wateridge, Sprecherin des Uno-Palästinenserhilfswerks UNRWA, schildert ihre Eindrücke von einer Woche Aufenthalt in Gaza-Stadt Ende November. Sie berichtet von den dramatischen humanitären Bedingungen, die viele Menschen, die vor den Kämpfen im Norden geflohen sind, vorfinden. Diese Menschen hätten oft nur die Kleider, die sie trugen, retten können und seien unter extremen Umständen in die Stadt gelangt. Wateridge beschreibt, dass viele Frauen allein angekommen seien, nachdem ihre Angehörigen von israelischen Soldaten erschossen oder an Checkpoints festgenommen worden seien. Täglich warteten diese Frauen an der Salah-al-Din-Straße, der Hauptfluchtroute aus dem Norden, auf Hilfe.
Die humanitäre Lage in Gaza-Stadt sei katastrophal, mit zerstörten Gebäuden und einem Mangel an Platz für die Flüchtlinge. Viele Menschen kampieren in den Trümmern ihrer zerstörten Häuser, die einsturzgefährdet sind. Die hygienischen Bedingungen sind alarmierend, es riecht nach Abwasser und viele Palästinenser leiden unter Hunger, während die Bombardierungen unvermindert weitergehen, was die Menschen in eine verzweifelte Lage treibt.
Die Uno und verschiedene Hilfsorganisationen haben in den letzten Wochen eindringlich vor der „apokalyptischen“ Situation in Nordgaza gewarnt. Selbst die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Mirjana Spoljaric, äußerte sich besorgt und betonte, dass es keine Menschenwürde mehr in Gaza gebe. Trotz dieser ernsten Warnungen scheint die internationale Gemeinschaft kaum zu reagieren, möglicherweise weil die Welt an die wiederholten Alarmmeldungen gewöhnt ist und der Horror des Krieges zur Normalität geworden ist. Wateridge hebt hervor, dass die aktuellen Ereignisse in Nordgaza nicht einfach eine Fortsetzung des Krieges darstellen, sondern vielmehr die Vorbereitung auf eine langfristige Landnahme sein könnten.
Ein Drittel des Gazastreifens ist vom Militär besetzt
Bis Ende November 2023 berichtete die UNO, dass fast 70 Prozent der Gebäude im Küstengebiet von Gaza zerstört oder beschädigt waren. Eine Analyse von Satellitenbildern durch den SPIEGEL zeigte, dass zwischen dem 11. Oktober und 12. November im Flüchtlingscamp Dschabalia mindestens 100 Gebäude, darunter mehrstöckige Wohnhäuser, auf einem Areal von etwa 20 Fußballfeldern, gezielt zerstört wurden, wahrscheinlich durch Sprengungen der Armee.
In den Städten Beit Hanun und Beit Lahija gab es ähnliche gezielte Zerstörungen, wobei mehrere Palästinenser berichteten, dass diese von unbemannten gepanzerten Fahrzeugen, die sie als „Roboter-Bomben“ bezeichneten, ausgeführt wurden. Die schwersten Zerstörungen fanden entlang der Grenze zu Israel statt, wo die Armee eine „Pufferzone“ eingerichtet hat, indem sie in einem Abstand von einem Kilometer alle Gebäude demontierte. Auch im Grenzgebiet zu Ägypten, bekannt als der „Philadelphi-Korridor“, wurden zahlreiche Häuser abgerissen.
Die Organisation Forensic Architecture hat 14 Einsatzrouten der israelischen Armee identifiziert, die den Gazastreifen durchqueren und in deren Umgebung ebenfalls massive Zerstörungen stattfanden. Ein bis zu sieben Kilometer breites Sperrgebiet, das etwa zehn Prozent der Fläche des Gazastreifens umfasst, wurde eingerichtet, wobei nahezu alle dort befindlichen Gebäude und landwirtschaftlichen Flächen zerstört wurden. Diese Zone wird als „Nezarim-Korridor“ bezeichnet, nach einer ehemaligen israelischen Siedlung, die 2005 geräumt wurde.
Neben der Zerstörung baut die israelische Armee auch militärische Einrichtungen. Im Nezarim-Korridor sollen in den letzten Monaten 19 Militärbasen und befestigte Anlagen errichtet worden sein, wie die „New York Times“ anhand von Satellitenbildern herausfand. Diese Stellungen sind durch meterhohe Erdwälle geschützt und verfügen über mehrere Funkmasten, eine Synagoge, Wohncontainer, Duschen und Toiletten sowie einen Grillplatz für die Soldaten. Die Internetverbindung ist so gut, dass die Soldaten in ihrer Freizeit Filme streamen können.
Ein Reservist, der in Gaza im Einsatz war und nun in einem Kommandozentrum arbeitet, erklärte dem SPIEGEL, dass es derzeit kaum große militärische Operationen gegen die Hamas gebe. Stattdessen gehe es darum, möglichst viel Land zu erobern, um es nach dem Krieg nutzen zu können. Das Ziel sei die vollständige Einnahme des nördlichen Gazastreifens und die weitere Verkleinerung des restlichen Gebiets. Insgesamt habe die Armee ein Drittel des Gazastreifens de facto besetzt und in ein militärisches Sperrgebiet verwandelt. Laut dem Rechercheur Weizman habe Israel in den letzten 14 Monaten alles für eine langfristige militärische Kontrolle vorbereitet.
Blockieren, um zu bleiben
Der Text beschreibt die aktuellen politischen und militärischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, insbesondere im Gazastreifen. Im Kern wird erläutert, dass rechtsextreme Elemente innerhalb der israelischen Regierung, insbesondere aus der Siedlerbewegung, einen Geiseldeal blockieren, der einen langfristigen Waffenstillstand und einen vollständigen Abzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen vorsieht. Diese Rechtsextremisten haben ein Interesse daran, dass der Krieg fortgesetzt wird, da sie glauben, nur so ihre Ziele – die Vertreibung der Palästinenser und den Ausbau von Siedlungen – erreichen zu können.
Der derzeit diskutierte Geiseldeal sieht lediglich eine vorübergehende Waffenruhe und keinen vollständigen Abzug der israelischen Truppen vor, was bedeutet, dass der Krieg weiterhin andauern würde. Finanzminister Bezalel Smotrich, ein führender Vertreter der Siedlerbewegung, hat bereits im Januar erklärt, dass er eine Militärregierung im Gazastreifen anstrebt. Auch Verteidigungsminister Israel Katz hat betont, dass Israel die „volle Sicherheitskontrolle“ über Gaza übernehmen möchte, ähnlich wie im Westjordanland.
Zusätzlich wird erwähnt, dass Smotrich und andere Regierungsmitglieder seit Monaten darauf drängen, Hilfslieferungen nach Gaza nicht mehr durch die UNO, sondern durch private Firmen durchführen zu lassen, die von der israelischen Armee geschützt werden. Dies wird von einem ehemaligen Verteidigungsminister als „Euphemismus für den Beginn einer Militärregierung“ bezeichnet. Trotz der kritischen Einschätzung dieser Pläne wird die israelische Regierung weiterhin deren Prüfung vorantreiben und gleichzeitig die Arbeit der UNO behindern, wo es nur möglich ist. Infolgedessen ist die Menge der Hilfslieferungen in den Gazastreifen auf das niedrigste Niveau seit Beginn des Krieges gesunken.
Insgesamt spiegelt der Text die komplexen und angespannten politischen Verhältnisse wider, in denen militärische Strategien und ideologische Ziele der rechtsextremen Regierung einen entscheidenden Einfluss auf die humanitäre Lage im Gazastreifen haben.
Vorbild Westjordanland
Der Text beschreibt die aktuellen Entwicklungen und Bestrebungen im Zusammenhang mit dem Siedlungsbau in Gaza, insbesondere nach den Ereignissen vom 7. Oktober. Der Rechercheur Weizman äußert, dass Israel möglicherweise bereit ist, im Gazastreifen Siedlungen zu errichten, und weist darauf hin, dass die Infrastruktur dort sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden kann. Diese Mehrdeutigkeit ermögliche es Israel, Siedlungsprojekte zu beginnen, während sie offiziell dementiert werden können.
Weizman vergleicht die Situation mit dem Westjordanland, wo Siedler schrittweise in das Gebiet eindringen, zunächst tagsüber, dann über Nacht auf Militärbasen, gefolgt von der Errichtung von Zelten oder Wohncontainern. Im Laufe der Zeit könnten diese Außenposten dann als reguläre Siedlungen anerkannt werden. Der Text erwähnt, dass im Westjordanland bereits über eine halbe Million Israelis leben, was die Besiedlung dieser Gebiete verdeutlicht.
Eine zentrale Figur in dieser Bewegung ist Daniella Weiss, eine 79-jährige Siedleraktivistin, die seit Jahrzehnten an ihrer Vision eines Großisraels arbeitet. Nach dem 7. Oktober begann sie, Spenden für zukünftige Siedlungen in Gaza zu sammeln und hat bereits 40 Wohncontainer sowie andere Materialien beschafft. Weiss berichtet, dass sich 750 Familien als Neusiedler für Gaza angemeldet haben und sie plant, die Container in der Nähe des Gazastreifens zwischenzulagern, um sie bei Gelegenheit schnell nach Gaza zu transportieren. Sie äußert optimistisch, dass in einem Jahr Siedler im Gazastreifen leben werden.
Siedlungen in Gaza als politische Option
Hadar Fenton, eine weitere Siedleraktivistin, hat sich ebenfalls für eine Ansiedlung in Gaza registriert und berichtet von einer großen Siedlerkonferenz in Jerusalem, bei der die Rückkehr nach Gaza von hochrangigen Politikern befürwortet wurde. Die Atmosphäre auf dieser Konferenz war positiv und bestärkte Fenton in dem Glauben, dass nun konkrete Schritte zur Ansiedlung unternommen werden müssen.
Der Text hebt hervor, dass die Diskussion über die Neubesiedlung Gazas in Israel zunehmend normalisiert wird, obwohl nur etwa 20 Prozent der Israelis diese Idee unterstützen. Dennoch gibt es im Regierungslager kaum Widerstand gegen die Siedlungspläne, und die Likud-Partei, die von Benjamin Netanyahu geführt wird, wird zunehmend von Siedlern und ihren Unterstützern dominiert. Die Siedlungsbefürworter argumentieren mit Themen wie Rache und Sicherheit, was die politische Landschaft in Israel beeinflusst und die Möglichkeit von Siedlungen im Gazastreifen als eine ernsthafte Option erscheinen lässt.